Ästhetik eines Brettspiels
#BG2GETHER August
Wie wichtig ist die Ästhetik eines Brettspiels im Vergleich zur Spielmechanik? Wie viel Einfluss haben die beiden auf das jeweilige Thema? Wann verzeiht ihr einem Brettspiel, wenn die Optik oder die Mechanik mal nicht stimmt?
Markus
„Der Waage-Mann ist der verständnisvolle Gentleman unter den Sternzeichen und verdreht mit seiner charmanten und einfühlsamen Art jedem den Kopf! Der Waage-Mann liebt alles Schöne im Leben. Dazu gehören geschmackvolle Insta-Feeds, aufregend komponierte Fotos, Designermöbel und ein eigener Style“ Dieser Auszug aus Horoskop.de sagt doch schon alles zu dem Thema, oder? Wenn ich ein Spiel aufbaue, dann muss alles ordentlich sein. Keine Plastiktüte auf dem Tisch, die Schachtel schön trappiert, die Ressourcen am liebsten in schicken Schälchen.
Und dann soll ein hässliches Spiel auf den Tisch? Mitnichten. Ich ärgere mich immer, wenn ein Spiel im Bereich Ästhetik Potenzial verschenkt. Aber brauche ich ein Blendwerk? Nein. Definitiv nicht. Vor meiner Berufsschulkarriere habe ich ja Schreiner gelernt. Und da ist ein Leitsatz: Form follows Function. Also die Gestaltung folgt der Mechanik. That’s it. Dabei ist die Gestaltung ja Geschmacksache. Beyond the Sun ist jetzt gestalterisch näher an einer Excel Tabelle aber das passt hervorragend zum Spiel. Marrakesh ist im typischen Queen Games Charme gehalten, passt aber für mich auch gut.
Die Optik eines Spiels kann man verzeihen, wenn die Mechanik passt – aber es macht mir dann meistens weniger Spaß. Ein gutes Beispiel ist hier Cthulhu Wars und Super Fantasy Brawl. Beides unfassbar gute Spiele. Aber wenn die bemalten Figuren auf den Tisch anstelle der einfarbigen Plastikgüsse kommen, dann zieht auch gleichzeitig Leben ein. Atmosphäre. Ich habe alle Versionen von Burgen von Burgund gespielt. Die Hochwertige von Awaken Realms macht einfach noch mehr Spaß, obwohl das Spiel immer das Gleiche ist. Ich pimpe aus diesem Grund ja auch mein Material.
Eine Sache, die für mich in den Bereich unverzeihlich fällt: Wenn Design ein Spiel behindert. Ein aktuelles Beispiel ist für mich Bitoku. Viel Spielmechanik und eine Brettspielgestaltung, die so überfrachtet ist, dass sie das Spiel behindert. Schlimmer, Marco hatte in einer Partie sogar einen Wertungsbereich übersehen. Ein No Go. Auch das Spielbrett von Darwins Journey ist eher suboptimal gestaltet. Das ärgert mich dann immer kolossal, wenn es mir als Spieler schon auffällt und wir sofort drei, vier simple Anpassungen benennen können, damit das Spielbrett ästhetischer und funktioneller aussieht.
Christian? Was sagst du? Ich bin mal provokativ. Du könntest bestimmt auch mit Prototypen spielen, oder? Bei Prototypen bin ich übrigens raus. Ich habe einmal bei King Racoon einen Prototypen auf weißen Karten gespielt mit Text. Da bekomme ich null Zugang. Sorry für den Sidekick. Christian, it’s your turn.
Christian
Ich habe hier ja meinen Ruf als Anti-Pimper und Deluxe-Verächter weg, was ich mir selber eingebrockt habe. Daher liegt die Vermutung von Markus natürlich nah. Das ist allerdings nur die eine Seite der Medaille, die ich gerne betone, weil ich sonst das Gefühl habe, diese wichtige Facette der Kritik bricht völlig weg. Material hochjubeln kann nämlich jede Person, witzigerweise ohne ein Spiel überhaupt je gespielt oder durchdrungen zu haben und irgendwie ist das ja in der Szene zum Volkssport geworden. Keine Zeit zu spielen, also dient das „geile“ Material als Produktionsfläche des Hobbys. Ein Strategieleitfaden ist auch aufwendiger zu produzieren als ein einfaches Unboxing. Letzteres interessiert mich übrigens überhaupt nicht.
Insgesamt ist die Kritik ist auch ein Teil der eigenen Reflexion. Was brauche ich wirklich, wofür gebe ich mein Geld aus, wie soll sich die Welt der Brettspiele entwickeln? Und eine innere kritische Stimme ist dort, die mir sagt, irgendwas läuft da falsch, wenn wir uns nur noch am Material ergötzen, aber das Spielen vergessen. Schaue ich ins Crowdfunding, sind es oft Bombast-Kampagnen, wo eben Design, Optik und Material, nein … eher übermäßig viel Material in der Präsentation weit vor der Mechanik steht. Will ich das für eines meiner liebsten Hobby? Nein! Ich verabscheue es irgendwie sogar. Und trotzdem zieht es mich an. Ich komme aus der Medien- und Designwelt, natürlich ist die Ästhetik eines DER Faktoren für mich.
Entsprechend, nein Markus, ich habe keine Lust, einen Prototypen mit weißen Karten und Markern aus Papier zu spielen. Und ich liebe opulente Vertreter wie Cthulhu Wars, Black Rose Wars, ISS Vanguard oder Frost Punk. Ich ergötze mich an schicken und qualitativ hochwertig bedruckten Playmats und ich mag schwere Tokens aus Pappe oder Pokerchips. Ich liebe pornöses und in sich stimmiges Material, welches mir alleine durch die visuelle Ebene eine Geschichte erzählt. Selbst wenn sie die Funktion beeinträchtigt, wie der fette Turm bei Frostpunk oder übergroße Minis wie bei Cthulhu Wars, die jedes Gebiet auf dem Spielbrett sprengen. Da bin ich also verrückter als du, Markus. Scheiß auf Funktion, es muss ballern im Auge!
Allerdings ist für mich diese Betrachtung von Ästhetik zu eindimensional. Auch sehr reduzierte Brettspiele oder mutige Gestaltungen können mich extrem begeistern. Auch puristischen Spielmaterial, welches an meine Anfänge im Brettspielzirkus erinnert, können mich abholen. Ein Plutocracy beispielsweise oder das legendär gestaltete T.I.M.E Stories, welches mit Weißraum nur so um sich schmiss. Finde ich genial. Brettspiele brauchen also nicht unbedingt üppiges Material, sondern sie brauchen eine visuelle Identität, die in mir etwas zum Schwingen bringt. Was das ist, ist viel zu vielfältig, um das in allen Facetten hier abzubilden. Die für mich „richtige“ Ästhetik ist am Ende aber enorm wichtig, damit ein Brettspiel mein Herz erobert!
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