Lesezeit: 7 Minuten
Final Girl von van Ryder Games trifft exakt meinen Nerv. Das ist mehr als ungewöhnlich, handelt es sich bei Final Girl um ein reines Solo-Spiel und meine Affinität zu Solo-Spielen ist gleich Null. Wie kommt es, dass ich mich nun nach Zeiten sehne, in denen Niemand im Haus ist, Stille herrscht und ich mich ganz meinem Final Girl widmen kann? Ich kann euch beruhigen, denn ich werde jetzt nicht Solo-Manolo den Rang ablaufen, aber Final Girl ist schon etwas Besonderes. Der Unterhändler wird in diesem Zusammenhang als Referenz häufig genannt. Aber Geiseln und Verhandlungen ist nicht mein Faible, ich liebe den Horror. Dieser ist bei Final Girl in stylischen Boxen verpackt. Woher wohl mein Interesse für Horror kommt? Es gibt zwei Schlüsselereignisse. Das zweite war Stephen Kings ES, dass ich im Alter von 10 Jahren verschlungen habe. Vor dem obligatorischen Kurzcheck nehme ich euch noch mit in meine Vergangenheit und meinem ersten Final Girl.

1986 – Ein wahre Geschichte

Ich sitze im Zimmer meines Bruders. Alleine. 23:37. Mein Bruder? Irgendwo unterwegs. Dem Weib oder dem Alkohol frönend. Mir ist es recht. Meine Eltern sind oben, wir Kinder wohnen eine Etage tiefer. Kinder. Das bin wohl nur ich. Mein Bruder Andy ist 10 Jahre älter, mein Bruder Christian ist 14 Jahre älter und längst nicht mehr im Haus. Ich habe mich in das Zimmer von Andy geschlichen, weil er einen Fernseher hat. Röhre. Das Display so groß wie zwei DIN A4 Zettel. Ich sitze auf einem Stuhl mit meiner Decke. Niemand soll merken dass ich heimlich fern schaue. Der Grund für mein nächtliches Wagnis:

John Carpenters Halloween. Bis heute bin ich von diesem Meisterwerk fasziniert. Die Kombination aus Andeutung des Schreckens und der musikalischen Untermalung. Der Wind pfeift singend nachts ums Haus und ich grusel mich in meiner Decke. Kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Plötzlich fliegt die Sicherung im Haus raus. Ich spüre den Schauer wie er meinen Körper ergreift und mich lähmt. Langsam, ängstlich und paranoid schleiche ich zum Sicherungskasten und und höre die Sicherung krachend einrasten. Der Strom elektrisiert den Fernseher und ich schaue mein geliebtes Halloween bis zum Ende und die Leidenschaft für Horrorfilme ist da.

Final Girl plus die Filmboxen.

Kurzcheck: Darum geht es in Final Girl: Camp Happy Trails feat. Hans – The Butcher

Das Final Girl ist legendär. Als moralische Instanz kämpft es bis zum letzten Atemzug gegen den Killer, wird dabei häufig schwer verletzt, erleidet Schicksalsschläge im Minutentakt oder sieht sich ausweglosen Situationen gegenüber. Auch sehr beliebt: Das Dilemma, aber dazu später mehr. Das Final Girl ist zudem ein Gegenpol zu der sexy Blondine, die in der ersten Szene mit ihrem Freund rummacht und dann im prüden Amerika aufgrund ihrer moralischen Verfehlung direkt als erstes Opfer des Killers das Zeitliche segnet. Nicht so das Final Girl, das tapfer bis zum Schluss kämpft und überlebt.

Final Girl als Solo-Brettspiel funktioniert exakt nach dem gleichen Prinzip. Ein Schauplatz, angelehnt an einen Horrorfilm, ein Monster, Psychopath oder Killer, der alle Figuren und das Final Girl schlachten will und ein einzigartiges Final Girl, in bester Jamie Lee Curtis Art. Ihr baut bei Final Girl ein Szenario auf, und dann geht es los. Die Aufgabe des Final Girls: Freunde retten,  den Horrorlevel reduzieren, wenig Schaden nehmen, Werkzeuge und Waffen einsammeln, möglichst lange am leben bleiben und nicht durchdrehen. Ach ja, den Killer sollte man töten. Wenn nicht, fällt das Final Girl, der Killer triumphiert und ich verliere. Zum Spielen benötigt ihr die Grundbox. Diese reicht aber alleine nicht aus, denn ihr ergänzt den Grundkasten mit Featured Film Boxen. Quasi Videokassetten oder Episoden, die das Szenario oder den Film wiedergeben, jede einzigartige Szenarien, Killer und Final Girls beinhalten und beliebig kombiniert werden können. Unser Film: Camp Happy Trails.

Im Camp Happy Trails ist viel los. Der Killer in Rot hat es sich gemütlich gemacht.

Kopfkino

Laurie – mein Alter Ego – steht am Dock von Camp Happy Trails. Camp Time in Amerika. Überall wilde Teenager, die am See tollen. Ein idyllisches Fleckchen Erde. Sollte es sein. Ist es aber nicht. Hans The Butcher hat mit seinem Vorschlaghammer auf der angrenzenden Lichtung eben einem spazierendem Pärchen den Kopf eingeschlagen. Der hemdsärmelige Student mit seiner blaßen Freundin schlendern über das taufrische Gras als Hans hinter einem Baum hervor tritt. Brachial, mächtig, langsam und stinkend. Die gestammelten Phrasen des College-Boys werden jäh durch das Geräusch berstender Knochen abgelöst. Die hysterischen Schreie der Freundin gehen nahtlos in röchelndes Gurgeln über, als Hans das Stahlungetüm in ihre flachbusige Brust einschlägt. Ich beobachte das Szenario noch aus sicherer Entfernung und wäge meine Optionen ab.

Je mehr Horror, desto weniger Würfel habe ich zur Verfügung. Zeit ist meine wichtige Ressource.

Spending my Time: Plan A

Entweder ich laufe das eine Feld zu Hans rüber, füge ihm von hinten in seinem Blutrausch schnell und heftig drei Schaden zu und verschwinde mit meinem nächsten Schritt in Richtung Feuerstelle. Eine mächtige und aggressive Aktion, die mich zugleich angreifbar macht. Hans wird mir in der nächsten Aktion folgen, Witterung aufnehmen und gestärkt durch seine Tat gnadenlos sein. Allerdings. Hans ist verwundbar. Mein Problem: Ich opfere alle meine Zeit für diese Aktion.

Mit Zeit kann ich mir neue Karten kaufen. Die „Nuller“ Karten sind gratis und sind die Basicaktionen. Mächtigere Aktionskarten kosten Zeit. Aber einmal gespielt wandern sie wieder in den Markt.

Hide & Seek

Ich überlege Plan B. Dieser beinhaltet folgende Schritte: Ich bewege mich, durchsuche das nächste Feld nach wertvollem Loot und erhole mich. Dann nutze ich eine meiner Handkarten, um den Horror zu reduzieren. Ein wichtiges Element im Brettspiel. Je weniger Horror vorhanden ist, desto mehr Würfel habe ich für meine Würfelproben zur Verfügung. Der Erfolg einer Aktion hängt von diesen Proben ab, was die Spannung zusätzlich erhöht. Der Vorteil von Plan B: Ich halte mir etwas Zeit übrig. Mit dieser Zeit kann ich mir neue und stärkere Karten für die nächste Runde kaufen.

Ohne Loot nix los. Der Energy Drink verleiht keine Flügel, schenkt mir aber wertvolle Zeit.

Was ein Idiot

Laurie zieht eine Ereigniskarte: Lauries Freund taucht plötzlich im Camp Happy Trails auf. Klar, Laurie ist ja moralisch sauber, Händchen halten und Küssen ist Ok, aber der grinsende Quarterback in der Collegejacke will natürlich mehr und kommt sein Girl im Camp Happy Trails besuchen kontrollieren. Jeff, so nennen wir den hormongetriebenen Tiefflieger, taucht bei den Unterkünften des Camps auf. Fuck, ich Laurie war gerade auf dem Weg zum Werkzeugraum, um nach nützlichen Items zu suchen. Und jetzt taucht der blonde Jeff ungefragt in Camp Happy Trails auf, leider genau ein Feld neben Hans The Butcher.

Gleichberechtigung: Nicht nur der dumme Boyfriend hängt an Lauries Rockzippfel…auch die Bestie #fame#bestfriendsforlife#cuties greift vielleicht ins Geschehen ein.

Dilemma

Was macht Laurie? Rettet sie in bester Final Girl Manier ihren ahnungslosen Freund? Ihr könnt euch ihre und meine Ohnmacht vorstellen? Warum tauchen in Filmen immer zu ungünstigsten Zeitpunkten die uncleversten Personen auf? Was macht der Idiot überhaupt hier? Reicht Hans The Butcher nicht vollkommen aus? Warum muss ich mich jetzt noch mit meinem Freund rumschlagen? Moralisch und spielmechanisch ist es besser Jeff zu retten. Allerdings zerstört diese Rettungsaktion den Plan von Laurie. Geht Jeff drauf, steigt der Horror und Hans steigert seinen Blutrausch, aber Laurie kann ihren Plan durchziehen und sich gleichzeitig von Jeff lösen, der ihr eigentlich intellektuell eh nicht gewachsen ist und sie zudem nervt. Die Geschichte endet für Jeff mit einem zertrümmerten Schädel, auf dem nun sein strohblondes Haar mit blutroten Strähnen und elfenbeinfarbenen Knochensplittern klebt und reichlich Gehirnmasse auf dem Rever seiner Collegejacke.

Hans und sein Hammer. Ein schlagkräftiges Duo.

Kopfkino

Final Girl triggert hemmungslos meine Fantasie. Die beschriebenen Szenen spielen sich natürlich alle in meinem Kopf ab und sind durch zahlreiche Horrorfilme genährt. Der Film läuft in meinem Kopf ab, die Ereignisse sind spürbar und lassen meine Fantasie durchdrehen. Auch sehe ich Hans den Metzger mit seiner Schürze in seinen Bewegungen und Aktionen leibhaftig vor meinem Auge. Hier kann jeder sein eigenes Szenario erleben, anknüpfend an die eigene Referenzen. Die vom Spiel erzeugten Dilemma plus die passenden Ereigniskarten reichern die Fantasie an und sind ein belebendes Element. Mein erstes Spiel war sehr einfach. Ich konnte Hans The Butcher vernichten. Der zweite Durchlauf? Reden wir besser nicht davon. Ich sage nur soviel. Der eiserne Vorschlaghammer von Hans hat sich hervorragend mit dem Eisen von Lauris Blut vermischt.

= a lot of Fun!

Fazit

Final GirlCamp Happy Trails feat. Hans The Butcher ist nach meinem Ausflug mit Solo-Manolo zu Gaia-Projekt mein erstes richtiges Solospiel und hat mich völlig packt. Über einen Freund habe ich das Grund Spiel (Core Box) und zehn Featured Film Boxen mit Deluxe Material geschoßen. Bisher habe ich mich ausschließlich mit Hans rumgeschlagen und bin völlig begeistert. Die Spielmechaniken tragen das Spiel, sie erzeugen Dilemma, stellen mich vor schwere Entscheidungen oder lösen über die Würfelproben eine Spannung des Scheiterns oder Gelingens aus. Die Ereigniskarten treiben das Spiel, erzeugen Twists und lassen meinen Film im Kopf rattern. Dazu die zahlreichen Anknüpfungen an filmische Werke und Merkmale des Horrorgenres. Einfach der Wahnsinn. Final Girl ist kein Expertenspiel oder Heavy Euro, aber es erzeugt so viel Spielspaß und Spannung, dass es mich in jeder Partie fesselt.

Das Spiel kommt in englischer Sprache. Es gibt keine deutsche Version, aber das ist gar kein Problem. Die deutsche Anleitung auf BGG ermöglicht einen smoothen Einstieg, die Begriffe auf den Karten sind wenig komplex und mit Basic-Englisch zu meistern. Die Regeln gehen schnell ins Blut über, so dass ihr ohne viel Aufwand spielen könnt. Camp Happy Trails feat. Hans The Butcher eignet sich hervorragend als Einstieg. Die anderen Boxen sollen noch besser werden. Ich bin sehr gespannt und bereue diesen Kauf keine Sekunde.

P.S.

Welche Box interessiert euch am meisten? Wer kann die Begeisterung tragen. Mein liebstes Final Girl ist übrigens Ripley. Falls es jemand interessiert.

Final Girl

39.98$
8.4

MATERIAL

8.2/10

SPIELIDEE

8.0/10

SPIELSPASS

9.0/10

Kurzfakten

  • Die Geschichte beginnt im Kopf
  • Cooles Zeitmanagement
  • Einfache Regeln
  • Logischer Verwaltungsaufwand
  • Film-Boxen für mehr Horror
  • leider nur in englischer Sprache

Spielinformationen

  • Genre: Solo-Spiel
  • Personen: 1
  • Alter: 14 Jahre
  • Dauer: 20-60 Minuten
  • Autor: Evan Derrick, A. J. Porfirio
Redakteur bei Brett & Pad | + Letzte Artikel

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4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • MATERIAL

    7.5

    SPIELIDEE

    3

    SPIELSPASS

    3

    Hmm, ich habe als Teenie auch horror sehr gemocht und habe mich daher sehr auf final girl gefreut.
    Ich kannte den Vorgänger hostage negotiator schon und mochte es überhaupt nicht, weil es einem vorgaukelt taktisch zu sein, aber ein schreckliches luckfest war.

    In zahlreichen reviews wurde behauptet, FG wäre nicht ganz so zufällig. Leider wurde ich diesbezüglich massiv enttäuscht. Nach meiner erstpartie dachte ich: es ist zu 99% das gleiche Spiel. Mechanisch finde ich es einfach wahnsinnig flach und repetitiv. Ich hatte nie den Eindruck, dass ich aus zahlreichen Optionen wählen kann, sondern meistens gab es eine deutlich optimale Lösung. Das frustrierendste für mich ist, wenn ich versuche, eine optimale Lösung zu finden und dennoch verliere, obwohl ich keinen Fehler gemacht habe. Und das passiert mir hier deutlich zu oft. Ich brauche optimales Spiel und würfelglück, dann gewinne ich ein Drittel der partien. Mir macht das leider keinen Spaß.

    Antworten
    • Hallo Sven,

      ich stimme dir da zu. Auf Deutsch von Frosted Games heißt der Titel ja „Der Unterhändler“ und ich habe mich damals durchaus drauf gefreut. Ich spiele solo ungern, aber das hat mi gekitzelt. Habs mir von nem Freund ausgeliehen und fand die Spielerfahrung extrem merkwürdig und unbefriedigend. Ich habe mich damals auch total gewundert, dass es so viele Erweiterungen gab. Es gibt da also eine Zielgruppe für. Ich fand es extrem aufgebläht, um im Kern dann sehr stark auf Zufall zu setzen. Allerdings sieht Final Girl besser aus und wenn man dann, so wie z.B. Markus, Fan des Genres ist, ja dann kann man da wohl trotzdem Spaß mit haben. Mehr thematischer Spaß, mehr Kopfkino, mehr im Material baden als jetzt Spaß über fetten Tiefgang und spielerische Offenbabrung.

      Liebe Grüße

      Christian

      Antworten
  • P. S. Geschmäcker sind natürlich verschieden. Und es gibt definitiv einige, die das Spiel liken.
    Falls ihr euch nicht sicher seid, empfehle ich die hostage negotiator app für ein paar Euro herunterzuladen und zu testen, bevor ihr hier viel Geld versenkt.

    Antworten
    • Hallo Sven,
      ja, ich gebe Dir 100% Recht. Ich habe keine Reviews gelesen. Sowas mache ich nicht. Ich war auch skeptisch, weil ich kein Solo Spieler bin. Umso überraschter war ich, dass es mich atmosphärisch so gepackt hat. Ich kann auch gut mit Würfelglück oder -pech umgehen. Ich glaube tatsächlich, dass viele Spiele von diesem unberechenbaren Würfeln leben.
      Ich habe bei Cthulhu Wars eine Würfelgeschichte, die so gut ist und den Charme des Spiels beschreibt. Auch bei Star Wars Rebellion habe ich solche epischen Würfelereignisse. Klar, sie stehen immer der Mechanik im weg. Aber gerade bei Final Girl tragen sie meine persönliche Atmosphäre. Und das mag ich einfach.
      Das Schöne ist, dass deine Perspektive und meine parallel existieren können und ich bin sehr froh, dass unsere Leser deine Perspekitve als Gegenpol haben.
      Liebe Grüße
      Markus

      Antworten

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