Die Ausgangslage
Heute muss etwas „gestreamlined“ sein. Ein absolutes Modewort und eigentlich schon Mantra einer Szene. Ecken und Kanten müssen weg. Übersichtliche, schnell zu begreifende Regeln, keine Downtime, ein zügiges System, dass zu jeder Zeit gespielt werden kann. Natürlich ohne Nachschlagen, ohne Detailregeln, die etwas darstellen, was eh kaum vorkommt und ein Brettspiel oder Tabletop nur aufbläht. Die Essenz einer analogen Unterhaltung sollte nach heutigen Maßstäben oft die perfekte Reduzierung sein. Regeltechnisch natürlich! Beim Material verhält es sich umgekehrt. So üppig wie möglich, so viel wie geht und für jeden Spielstein und jede Karte ein besonderes Goodie. Man kann das sicher nicht verallgemeinern, aber zumindest meine Wahrnehmung geht in diese Richtung. Und das, was nun im Vergleich zu Classic BattleTech folgt, wird eine andere Geschichte erzählen.
Die Umkehrung
Denn BattleTech und der Tag bei den Freibeutern war genau die umgekehrte Ausrichtung. Das Spielfeld ist eine Hex-Feldtapete, die eigentlich kaum Charme besitzt und nach heutigen Maßstäben Restmüll ist. Die Mechs sind in der neuen Plastik-Variante zwar schicker, aber in Sachen Details jetzt nichts, was einen ausrasten lässt. Die alten Mechs aus Zinn sind dann sogar hässlich. Dazu gesellen sich schnöde sechsseitige Würfel und für jeden Mech ein Kontrolltableau. Hab ich Tableau geschrieben? Ich meinte natürlich ein episches ausgedrucktes Blatt Papier. Episch, nicht weil Zettelwirtschaft aus dem letzten Jahrhundert rockt, sondern wegen der Größe (DIN A4). Jetzt kommen wir den Kern der Sache näher.
So schlicht also die Aufmachung, so fett wird spielerisch aufgetragen. Wenn du pro Mech so ein Blatt Papier vor dir hast, mit unzähligen Informationen, Tabellen, Skill-Checks, Lebenspunkt- und Panzerleisten für jeden Bereich des Mechs, von Kopf über Extremitäten bis hin zur Rückseite und du sogar nachvollziehen kannst, wo Waffen, Ausrüstungen und Modifikatoren der Mechs untergebracht sind, dann ist das der bestmögliche Wahnsinn an Komplexität. Tabletop oder schon Rollenspiel?! Es gab ein Standardmotto bei den Tabletop-Freibeutern zu meinen Fragen: „Es gibt zu allen Fragen in BattleTech eine Regel – immer!“ Und glaubt mir, als absoluter Anfänger hatte ich viele.
Die Quintessenz von Battletech
Ich wurde in eine Schlacht mit sechs anderen Personen geworfen. Ich lasse euch jetzt durch meine Schlagworte tanzen: Laufen, Rennen, Sprungmodule, Deckung, Höhenunterschiede, kritische Treffer, Hitzeentwicklung, Abkühlung, Reichweite, Skill-Checks, Megatonnen, Umkippen, Rammen, Sturmangriff, Wasser, Wald, Faustschläge, Fußtritte, Explosionen von Munition, Aufreißen von Panzerung, Stahl, Laser, Raketen, Stampfen bis das Zimmer bebt, Würfelgeklacker und Menschengegacker. Unfassbare Stimmung.
Dazwischen Matheaufgaben und Tabellen als wäre man wieder in die Schulzeit versetzt. Ein einfacher Angriff besteht aus der Berechnung von Hitze, Bewegungsreichweite und Art, Pilotenskill, Waffenreichweite, aufgrund dessen dann ein Angriffswurf mit zwei W6 erfolgt. Getroffen und Schaden versenken? Halt Stopp! Wo denn, fragt da BattleTech. Je nach eigener Angriffsposition wird über eine Tabelle erwürfelt, wo der Schaden abgestrichen wird. Es ist eben ein Unterschied, ob ich hinter, seitlich oder vor einem gegnerischen Mech stehe. Dazu hat der getroffene Mech wieder zwei Matrixen. Eine für die Panzerung, danach fürs Innenleben. Wird Letzteres getroffen, folgen weitere Checks. Kritische Treffer? Wie viele? Was wird danach im Mech zerstört? Tabellen und Skill-Checks tanzen den Kampftanz mit Würfen. Und das hier sind nur die absoluten Basics! BattleTech ist eine Simulation. Klingt groß und abschreckend, aber es bietet einfach enorme Vorteile!
Das Ergebnis
Es bietet nämlich Kopfkino ohne Ende. Jede Partie erzählt eine Story. Eine? Verdammt nein, eher einen Roman. Martins Mech kämpfte gegen einen anderen unterhalb einer Erhöhung. Ich zündete meine Sprungmodule, landete auf dieser Erhöhung und feuerte mit fettem Grinsen meine Laser ab. Dann ging mein Mech in den Nahkampf über. Ein Tritt sollte es werden. Normalerweise gibt es 9 frontale Trefferzone. Da mein Mech aber von einer Erhöhung seinen Kung-Fu-Tritt ausführte, konnte ich schlecht in die Beine bzw. den Unterkörper treten. Wäre irgendwie unlogisch. Ergo wird in so einem Fall eine andere Treffertabelle herangezogen. Nur für den Oberkörper und entsprechend steigt die Chance, den empfindlichen Kopf zu treffen. Unter großem Gejohle gelang mir natürlich genau das! BÄMMM. Ein Tritt und fast hätte ich den titanischen Koloss wie einen Käfer zertreten. Es fehlte am Ende nur ein Schadenspunkt mehr! Trotzdem stand der Mech nun am absoluten Abgrund.
Es nimmt kein Ende
Andere Szene, aber gar nicht viel später. Martins Mech packte einen anderen, der an der Spielfeldkante stand und dort nicht mehr wegkam, weil ein Laserhagel sein Bein zerfetzt hatte. Er wollte den Mech aus dem Spielfeld werfen. Wie gesagt, in BattleTech ist alles durch eine Regel möglich. Der Wurf misslang. Für mich ein gefundenes Fressen. Ja, ich hatte fette Laser und Raketenwerfer, aber ich warf wieder mein Sprungmodul an und landete hinter Martins Mech. Ein Tritt in den Rücken sollte es werden. So bin ich! Roundhouse-Kick mein Vorname. Mein Tritt saß und zerfetzte Panzerplatten. Nur leider hatte ich einen vierten Mech eines anderen Spielers vergessen. Der drehte sich, nahm brutalen Anlauf und ballerte mir mit 90 Tonnen Kampfgewicht seinen Stahl ins Gesicht. Ein Rammangriff. Ende der Geschichte, er selber bekam Schaden durch den Aufprall und fiel hin, ich verlor ebenfalls das Gleichgewicht, fiel um … genau auf Martins Mech, der daraufhin nach verpatztem Wurf ebenso schwankte, umfiel und auf den letzten Mech viel. Domino-Effekt. Mein Kopfkino explodierte am Tisch. Ja, es gibt zig Sonderregeln. Ja, es ist anfänglich extrem unübersichtlich. Nur dafür erzählt das Spiel eben Geschichten, die ohne diese Ecken und Kanten im Spielsystem nicht zu erzählen wären. Wo sonst kann dir das Munitionsdepot deiner eingebauten Gatling-Gun im Arm durch einen glücklichen Schuss auf genau diesen Arm explodieren und deinen eigenen Mech in den kompletten Untergang reißen? Tabellen, Mathe und ein Regelkatalog sind unsexy. Ich muss das nicht immer haben. Es stecken aber eben auch Vorteile dahinter.
Fazit
Ich besitze nun selber ein paar Mechs, wenn auch nur wenige und wühle mich gerade erst in das System ein. Entsprechend möchte ich an dieser Stelle keine Wertung hinterlassen. Dieser Text ist aus der Begeisterung zu komplexen, ja fast komplizierten Systemen entstanden. Eine Hommage. Aus dem Herzen, genährt durch die eigene Vergangenheit in den 80ern und 90ern. Auf den ersten Blick uncharmant, nach aktuellen Maßstäben eher schon unsexy, geradezu ungeschliffen, schreit alles nach in die Tonne des Vergessens kloppen. Aber gerade durch diese Zutaten, diese Wucht von aberwitzigen Details, kann einem die Liebe mit Wonne ins Gesicht geschmiert werden. Der Trend, alles zu reduzieren, übrigens durch BattleTech Alpha-Strike im eigenen Universum durchaus geschehen, vergisst dabei manchmal, dass diese krude, ungelenke, überbordende Mischung aus Tabellen-Massaker, Zahlenwerten und langsamer Spielgeschwindigkeit ein Spieluniversum facettenreicher gestalten kann. Es bildet mögliche Dinge ab, die woanders dem Rotstift zum Opfer fallen, weil es nur Details sind. Dafür darf dann das Bling-Bling für Kopfkino sorgen. Bleibt die Frage, ob das immer der bessere Weg ist. BattleTech ist eigen, es ist verdammt glücklastig und mischt so enorme Komplexität mit Bier & Brezel-Mentalität. Ungewöhnlich, aber geil!
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