Kurzcheck: Darum geht es in Merchants Cove
Merchants Cove ist eigentlich thematisch eine Kreuzfahrtreise aus der Sicht der Einwohner:innen von den Orten, die Touristen besuchen. Alle paar Stunden kommen in überfüllten Booten Krieger, Zauberer, Adlige und andere Gesellen in eure schmucke Höhle gefahren, um dann vor Ort überfallartig die Händlerstände abzugrasen. Konsum macht glücklich. Die Aufgabe ist daher simpel! Du versuchst mit deinem Charakter Waren herzustellen. Als Schmied stellst du Waffen her, als Kapitänin willst du alte geborgene Artefakte veräußern und bist du Alchimistin, dann sind es vielleicht Liebestränke für stinkende Zwergenkrieger. Alle Waren sind dabei einer von vier Farben zugeordnet. Der Witz ist nun, dass du nur richtig Kohle scheffelst, wenn du die Nachfrage richtig einschätzt. Die vier Farben der Meeple bestimmen die nachgefragte Art und der Steg die Warengröße (klein; groß). Wert der Waren multipliziert mit der Nachfrage und die Siegpunkte ballern nur so in die Kasse!
Nun sind wir auch schon beim interaktiven Part des Spiels, denn alle am Tisch haben Einfluss auf die Verteilung der Meeple. Pro Runde darfst du beim Überschreiten gewisser Meilensteine auf einem Zeit-Rondell, welches bestimmt, wer gerade dran ist, in einen Beutel greifen und den gezogenen Meeple auf eines der Schiffe in der Höhle platzieren. Besetzt du damit den letzten Platz, darfst du bestimmen, wo das Boot anlegt, wobei der Steg dann blockiert ist. Ein spannendes Pokern um die Nachfrage beginnt! Dazu gesellt sich die individuelle Mechanik des gewählten Charakters, ein Mehrheitenkampf um Gildenhäuser und damit wichtige Siegpunkte. Wer die Vor- und Nachteile von Merchant Cove erforschen will, muss sich in erster Linie aber auf die Charaktere konzentrieren.
Selbst im Weg?
Der erste Blick auf die Charaktere beeindruckt. Während einer von euch am Tisch mit Würfelmanipulation kleine und große Waffen als Schmied herstellt, hat der Zeitreisende ein Aktion-Zeitreise-Puzzle mit Plättchen, die Kapitänin ein Laufspiel und die Alchimistin spielt ein reduziertes Potion Explosion mit Murmeln. Wer die Erweiterungen dazu nimmt, der hat im Schnitt komplexere Charaktere. Mit der Drachenzüchterin wartete z. B. ein Legepuzzle mit Bagbuilding auf dich. Beim Orakel, welches mit Knochen, Münzen und Würfeln hantiert, eine Art Ganz schön Clever. Ehrlich Leute, das ist doch irre cool und motivierend! Ähnlich ist der Grundablauf. Mit einem Worker löst du Aktionen auf deinem Tableau aus, die dich Zeit kosten. Wer bisher am wenigstens Zeit auf dem Rondell verbraucht hat, ist am Zug. Easy.
Der zweite Blick schärft sich nach den ersten Partien, vielleicht sogar schon während der Erstpartie. Ja, das Spiel mit den Kunden in den Booten ist interaktiv, aber was jeder auf seinem Charaktertableau anstellt, ist absolut solitär. Kennst du die anderen Charaktere nicht, verstehst du oft nur Bahnhof. Der Einstieg in die Erstpartie ist entsprechend brutal! Kein Wunder, dass Pegasus Spiele das Spiel als Kennerspiel deklariert. Jeder Charakter hat ein eigenes Regelheft, jeder Charakter muss individuell erklärt werden. Heftige Hürde. Der dritte Blick passt dann nur leider nicht zu dieser Hürde. Sind die Charaktere verstanden, spielen sich die meisten recht gradlinig, manche geradezu grotesk einfach.
Was bedeutete das?
Der Tanz aus Hürde und starker Asymmetrie suggeriert hier ein komplexeres Spiel. Das mag am Ende auf wenige Charaktere zutreffen (Orakel, Zeitreisender), aber selbst dort stellt sich irgendwann ein Flow ein, der nicht zu einem anspruchsvollen Spiel passt. Vom Level befinden wir uns hier auf gehobenen Familienspielniveau. Da zündet es dann aber! Merchants Cove erfordert zwar viel Einarbeitungszeit, danach mutierte es aber zu einem der aktuellen am meisten gespielten Brettspiele in der Familie. Die einfachen Charaktere kann man als Grundschüler meistern, spielerfahrene Kinder ab 10 Jahren schaffen auch die komplexeren. Es motiviert alle Charaktere auszuprobieren, man will schauen, wie gut man selbst mit gewissen Charakteren spielt und plötzlich ist dieses Spiel ständig auf dem Tisch. Und da fühlt es sich aufgrund seiner Schauwerte auch wohl.
Zusätzlich wird der interaktive Part voll ausgereizt. Der Blogger-Papa hat ganz viele große gelbe Waren? Da vereinigt sich der Rest der Familie und stellt das Boot mit den gelben Adligen an den Steg, wo nur kleine Waren verkauft werden können. Autsch! Und über Städterkarten und das Sammeln von Gildensymbole entbrennt ein Kampf um die Mehrheiten über die Gildenhäuser. Ärgern kann man sich hier also auch, wenn auch man niemals destruktiv in das solitäre Spiel der Charaktertableaus eingreifen kann.
Du brauchst mehr!
Das Grundspiel ist leider der schwächste Part der Spielwelt. Du hast zwei der einfachsten und langweiligsten Charaktere in der Schachtel und extrem wenig Varianz. Wer sich das gute Inlay anschaut, sieht sogar unausgefüllte Stellplätze fürs Material. Der Grund ist einfach. Die Erweiterung Das Geheimversteck füllt die leeren Aussparungen des Inlays und ist Pflicht! Du hast damit nicht nur einfach viel mehr Varianz durch neue Kartensätze, sondern neue Boote in unterschiedlicher Größe, es verfeinert das Spiel um die Mehrheiten über die Gildenhäuser, bietet 12 Solo-Szenarien und eine geheime und ungemein geile Überraschung. Ich spiele nicht mehr ohne diese Erweiterung. Aber auch die anderen Charaktere sind ziemlich cool und wer Spaß an dem Spiel hat, der muss auch hier investieren. Das hält natürlich die Langzeitmotivation irre hoch und den Kontostand niedrig. Am Ende bist du selbst ein Zwerg oder eine Zwergin am Händlerregal.
Fazit
Merchants Cove ist ein leicht zu kritisierendes Spiel. Die Einstiegshürde durch die extreme Asymmetrie ist enorm hoch, weil jeder Charakter individuell erklärt und gelernt werden muss. Daraus kann eine Erwartungshaltung erwachsen, die das Spiel in Sachen Anspruch nicht hält. Denn das solitäre Spiel auf dem eigenen Charaktertableau fällt in den meisten Fällen mechanisch nicht sonderlich komplex aus. Dazu ist das Grundspiel materialtechnisch zwar mehr als ordentlich ausgestattet, braucht aber zumindest die Erweiterung Das Geheimversteck, um wirkliche Varianz zu bieten.
Trotzdem kann das Spiel auf seine Art Überzeugen. Nämlich dann, wenn man mit den gleichen Personen spielt, sich Abwechslung und Anspruch über die Erweiterungen einkauft und es schätzt, dass die Asymmetrie hier eher für den Faktor individuelle Langzeitmotivation durch Abwechslung und weniger für Herausforderung innerhalb einer Partie steht. Der Grad der Interaktion ist angenehm, die Balgereien um Mehrheiten und die aus der Spielgruppe selbst konstruierte Nachfrage über Waren durchaus spannend. Merchants Cove ist damit am Ende ein gutes und opulentes Familienspiel für Vielspieler:innen und weniger das Eurogamer-Root für Asymmetrie-Fans.
Merchant Cove
69,99 €Kurzfakten
- Tolles Material
- Hohe Asymmetrie
- Viele tolle Erweiterungen
- Cooler Kampf um die Nachfrage
- Hohe Einstiegshürde
- Großer solitärer Anteil
Spielinformationen
- Genre: Asymmetrisches Worker-Placement
- Personen: 1 - 4
- Alter: ab 10 Jahren
- Dauer: 60 - 90 Minuten
- Autor/in: C. v. Ostrand, D. Villareal, J. Pac
- Rezensionsexemplar erhalten
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- 4. November 2024
- 29. Oktober 2024
- 21. Oktober 2024
- 18. Oktober 2024
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3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
MATERIAL
9
SPIELIDEE
7
SPIELSPASS
8
Hallo Christian,
so sehe ich es auch. Viele haben das Spiel mit der Erwartung gekauft, das es komplex wäre. Waren anschließend enttäuscht, sofort wieder verkauft und dann schlecht bewertet. Was soll das? Man muss das Spiel danach bewerten was es sein will. Letztendlich ein gehobenes Familienspiel mit hoher Einstiegshürde. Dann aber enorm viel Spaß die Charaktere auszuprobieren 😎😎😎
MATERIAL
9
SPIELIDEE
8
SPIELSPASS
6
Hi Christian, schöne Rezension und gut dargestellt.
Ich hatte das Vergnügen unvoreingenommen auf einem Spieltreffen vor ein paar Monaten die englische Fullpledge-Kickstarter-Version zu spielen. Gerade deinem ersten Absatz im Fazit kann ich zu 100% unterstreichen.
Für meinen Geschmack war es viel zu solitär und die Asymmetrie wirkte am Anfang noch krass. Im Laufe der ersten Partie merkt man aber doch, dass am Ende alle irgendwie dasselbe machen. So ganz persönlich hat es mich eben nicht abgeholt. Die Idee fand ich gut, das Material ist geil, aber ich würde es nicht mehr aus dem Schrank ziehen … bzw. in meinem Fall gar nicht erst einziehen lassen.
Trotzdem – oben steht es bereits – sehr schöne Rezension.
VG Horst
Danke. Für mich ist es ein tolles Familienspiel, weil die Kinder Sitzfleisch haben. Mit meiner normalen Runde, die gerne auch Expertenluft schnuppert, würde ich es auch eher nicht aus dem Regal ziehen.