Kurzcheck: Darum geht es bei Perseverance: Castaway Chronicles
Gerade noch befindest du dich auf einem Kreuzfahrtschiff, da bestraft dich das Karma und lässt das Schiff auf einer unbekannten Insel stranden. Der Kapitän ist zudem krank und der Karma-Gott scheint dir den Mittelfinger zu zeigen, denn nichts anderes als gefährliche Dinos streifen durchs Unterholz. Natürlich bricht Chaos aus! Wie soll die Gemeinschaft überleben? Wer entwickelt die besten Überlebensstrategien, baut eine Verteidigung gegen die Dinos auf und versammelt so die meisten Anhänger (Siegpunkte) hinter sich? Wer das schafft, gewinnt nicht nur das Spiel, sondern wird auch Bürgermeister:in. Mich hat dieses Szenario immer an die Serie Lost erinnert. Besonderheit: Das Spiel besteht aus zwei Episoden, in denen nicht nur eine thematische Weiterentwicklung einsetzt, sondern auch der Anspruch variiert, ohne gänzlich alles anders zu machen. Dazu später mehr.
Die Hauptmechanik von Perseverance: Castaway Chronicles ist in beiden Episoden Dice-Placement. Aus einem großen geworfenen Pool aus Würfeln setzen die Spielenden reihum Würfel oder Anführer:in auf Aktionsfelder auf den Spielplan, um sich um all die Dinge zu kümmern, die für ein Camp wichtig sind. Du sammelst Ressourcen wie Essen, Baumaterial und Geschichten. Geschichten als Ressource? Hey, wie sonst sollen die Leute wissen, was du tust! Du baust eine Dino-Verteidigung auf, bildest Kämpfer:innen aus, damit du verschiedene Bereiche schützen kannst, gehst sogar auf kleine Abenteuer oder arbeitest mit den Offizier:innen der Schiffsmannschaft zusammen, um deren Einfluss zu sichern. Ressourcenmangel zudem an jeder Ecke, dazu wirklich alles thematisch alles äußerst dicht verpackt! Perseverance: Castaway Chronicles besitzt zudem eine hohe Interaktion, denn in allen Bereichen geht es auch um Mehrheiten, für die du eben in politischen Zwischenwertungen Anhänger erzielst. Also irgendwie typisch Mindclash, 100 Baustellen auf dem Spielbrett und 10.000 im Kopf?
Episode I
Anders als gedacht
Der Kurzcheck zeigt, wie thematisch dicht und spielerisch breit Mindclash Games ihr Szenario der Gestrandeten aufbaut – riecht nach angeschmortem Hirn, vor allem in der Ersterklärung! Kennt man von anderen Titeln des Verlags (z. B. Trickerion oder Cerebria). Hier ist es aber anders, denn nach wenigen Zügen ist das Spiel verinnerlicht. Es spielt sich fast enttäuschend fluffig. Ein Würfel, eine Aktion, Nebenaktion, fertig. Mein 11-jähriger Sohn konnte hier gut mithalten. Wer also seine Synapsen durchbrennen wollte, ist hier falsch.
Die Dinos in der Theorie
Wenn man in den vier verschiedenen Bereichen des Spiels eine Aktion per Würfel ausführt, dann werden dort im Wildnisbereich Dinos platziert. Du bist halt laut oder fuchtelst mit Nahrung rum. Kein Wunder, dass du Dinos anlockst! Wenn alle Dino-Plätze belegt sind, dann greifen die Dinos den Spielbereich an. Das hat immer Konsequenzen. Platzierte Kämpfer:innen, Fallen und Mauern von allen Spieler:innen bilden die Verteidigung. Die wird gegen die Angriffe der Dinos gegengerechnet. Kommt es zum Durchbruch, dann zermalmen die Dinos je nach Anzahl unterschiedlich viele Siedlungen oder fressen Einwohner. Das ist für Siedlungsbesitzer:innen schlecht, weil sie entweder sofort Anhänger oder in der Politikphase Einfluss verlieren. Gefährdet sind zuerst Siedlungen in der Nähe zur Wildnis. Warum also dort überhaupt bauen? Tja, der Baubonus ist dort lukrativer. Clevere Zwickmühle der Autoren!
Die Dinos in der Praxis
Meine Frau und Dino-Martin haben im Nahrungsbereich anders als ich Siedlungen gebaut. Soll ich jetzt mit fiesem Grinsen die Dinos eskalieren lassen? In diesem Gedankengang stecken Fehler. Löst du einen Dinoangriff aus und es folgt ein Durchbruch, wirst du dafür mit Anhängerverlust ergo Siegpunkte bestraft. Du sollst halt für das Camp sorgen und nicht fahrlässig Dinos anlocken! Weiter werden Spieler:innen, die an der Verteidigung mitgewirkt haben, mit Belohnungen belohnt. Die sind so stark, dass geschicktes Agieren mit dieser Mechanik richtig viele Anhänger einbringen kann, unabhängig von der politischen Wertungsphase. Wann also lohnt es sich einen Dinoangriff auszulösen? Wie sehr baust du selbst eine Verteidigung mit auf? Hinter jeder Entscheidung steckt politisches Kalkül.
Weiteres Futter für den Spielspaß ist die Situation, dass man selbst in einem Bereich Aktionen aktivieren will, dort aber niemand eine Verteidigung aufgebaut hat. Wenn jetzt die Dinos schon Schlange stehen, wäre dort eine Würfelplatzierung glatter Selbstmord! Wer also Spielbereiche ohne Verteidigung nutzt, kommt irgendwann zu dem Punkt, dass Aktionen nicht mehr ohne harten Malus genutzt werden können. Perseverance: Castaway Chronicles mischt also am Ende Tower-Defense mit Dice-Placement. Eine sehr gefällige Mischung.
Die Abstimmung
Die Abstimmungsphase ist ein weiteres spannendes Feld, die übrigens in beiden Episoden durchlaufen wird und zwischen zwei bis dreimal ausgelöst wird. Sind alle Würfel platziert, wird abgerechnet! Dazu wird geschaut, wer in den verschiedenen Bereichen den größten Einfluss durch gebaute Siedlungen, platzierte Würfel der eigenen Spielfarbe oder deinen Anführer besitzt. Gewinner:innen der vier Bereiche stimmen nun geheim ab, ob sie jeweils Stimmen erhalten möchten oder Ressourcen. Personen mit dem zweitmeisten Einfluss erhalten in abgeschwächter Form die nicht gewählte Option. Der Kniff: Stimmen Entscheiden am Ende dieser Phase, wer die meisten Anhänger erhält. Und glaubt mir, das sind richtige viele! Was wähle ich oder die anderen? Entscheide ich mich für Stimmen in meinen Sektor, habe ich selbst in der nächsten Runde weniger Ressourcen und schenke diese dem zweitplatzierten Mitspieler.
Zusätzlich werden die vier ausliegenden Offizier:innen gewertet, die für verschiedene Bereiche im Spiel Anhänger ausschütten. So wird z. B. der Siedlungsbau belohnt und das Einbringen bei der Verteidigung. Hast du am meisten Einfluss, darfst du dir Anhänger gutschreiben. Perseverance: Castaway Chronicles besitzt also im Politischen eine ausgeprägte Mehrheits- bzw. Area-Control-Mechanik.
Episode II
Weiterentwicklung
Episode II krempelt das Spiel um. Und Leute, ich liebe diesen Ansatz! Es sind ein paar Monate vergangen und das siehst du auf dem neuen Spielbrett, den Tableaus, Karten und Ressourcenmarker. Aus dem Camp ist eine Stadt geworden, geschützt durch eine dauerhafte Mauer. Es hat fast einen wimmelbuchartigen Charakter, wenn man sich die Veränderungen auf dem neuen Spielplan anschaut und sich dabei interessiert die Nase platt drückt! Es ist thematisch eine dichte Verknüpfung zwischen zwei Brettspielen und für mich in der Form etwas gänzlich Neues.
Spielerisch verschwindet logischerweise Tower-Defense, denn die Verteidigung steht! Allerdings wurde damit auch der Entdeckergeist der ehemaligen Kreuzfahrer:innen geweckt. In Episode II dreht sich alles um die spannende Erkundung der Insel. Hexfelder liegen aus, die man von gebauten Camps aus langsam erkundet. Vorsicht, dass bedeutet immer eine Auseinandersetzung mit Dinos! Bilde also vorher Kämpfer:innen aus. Es riecht nach Indiana Jones, weil Abenteuer, die enorm viele Siegpunkte einbringen, mehr im Fokus stehen. In der Ferne wartet sogar ein goldener Tempel, deren Erkundung mächtig Punkte einbringt! Erkundete Hexfelder können zudem besiedelt werden. Mit Camps, um noch tiefer vorzudringen, aber auch mit Siedlungen. Letzteres macht Episode II zum Leckerbissen!
Anspruch steigt!
In den befreiten Gebieten erschafft man nämlich durch Siedlungen neue, frei wählbare Einsetzfelder für das Dice-Placement. Man verändert so die Möglichkeiten, wie man im Spiel Ressourcen oder alternativ Anhänger erhält. Jedes Spiel entwickelt sich anders! Weitere Komplexität entsteht durch die umfangreiche Entwicklung des eigenen und riesigen Tableaus. Die Entwicklung, die deinen einsetzbaren Anführer verbessert, ist dabei nicht einfach, kostspielig und sollte zwingend zur eigenen Strategie passen. Dafür belohnt sie mit mächtigen Boni oder straken Regelveränderungen. Wer diesen Tanz nicht beherrscht, geht unter! Entsprechend motivierend, aber strategisch anspruchsvoll gibt sich Episode II. Der Kampf gegen die Dinos beim Erkunden ist zudem keine kooperative Angelegenheit mehr und will gut geplant sein. Dafür kann man Dinos nun gefangen nehmen und anderweitig für Boni oder Siegpunkte einsetzen.
Kampagne?
Es besteht die Möglichkeit, beide Spiele miteinander zu verbinden. Eine Art Legacy-Modus ohne Materialzerstörung. Hierbei wird dem Spiel eine weitere Ebene von übergeordneten Aufgaben mit Kampagnen-Siegpunkten übergestülpt. Im Vorfeld fand ich das durchaus reizvoll, allerdings ist die Kampagne so aufgebaut, dass man zweimal Episode I und zweimal Episode II spielt. Das finde ich thematisch recht unelegant und die zusätzliche Ebene macht ein überaus fettes Spiel in Sachen Material und Verzahnung noch fetter. Ich brauche auf Mayo kein Schweineschmalz obendrauf. Für mich ist dieser Modus also durchaus gefloppt.
Fazit
Zum Glück bezahle ich keine Steuer für benutzte Buchstaben, dieser Artikel hätte mich arm gemacht. Passt aber zu Perseverance: Castaway Chronicles, das einem mit der Spielschachtel enormen Platz im Regal raubt und jeden Tisch zum Bersten bringt. Dabei ist die Qualität außerordentlich, genauso wie die thematische Einbettung. Von Episode I und dem packenden Kampf gegen Dinos, Campaufbau, den politischen Reibereien bis hin zur Erkundung der Insel und dem Ausbau der eigenen Möglichkeiten in Episode II, ist Perseverance: Castaway Chronicles eine extrem liebevolle, thematisch enorm dichte und spielerisch erquickende Angelegenheit.
Trotz der enormen Breite an Möglichkeiten ist der Einstieg in Episode I gut zu meistern und erst in der zweiten zeigt Mindclash Games den typischen Anspruch. Die Verzahnung der verschiedenen Spielelemente mit dem Aspekt der Mehrheiten sorgt zudem für viele Zwickmühlen, selbst bei dem eher einfachen implementierten Dice-Placement. Letzteres hat man allerdings in vielen anderen Spielen (Black Angel, Origins, Marco Polo II …) durchaus anspruchsvoller und spannender erlebt. Egal, denn Perseverance: Castaway Chronicles bietet trotzdem ein gutes Spielvergnügen und ich bin absolut gespannt, wie sich das Spiel in kommenden Episoden entwickeln wird.
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Hallo Christian,
toller Text, also erstmal ein großes Lob dafür. Tatsächlich schleiche ich schon seit fast 2 Jahren immer wieder um diesen Titel. Da der Preis langsam sinkt frage ich mich: Zündet das Spiel noch immer, setzt es schon Staub an oder ist es zwischenzeitlich vielleicht sogar ausgezogen? Der Hype damals war groß, aber er flachte (jedenfalls in meiner Wahrnehmung) unwahrscheinlich schnell ab und versickerte schon bald im Nirgendwo.
Ich freue mich auf eine Antwort und verbleibe mit besten Grüßen 🙂
marco
Hallo Marco,
vielen Dank für dein positives Feedback. Ausgezogen ist es nicht, aber es hat Staub angesetzt. Nicht weil es schlecht ist, sondern weil mein Brettspielumfang und die Einblicke in Neuheiten eben nicht normal ist. Wir haben es gerne gespielt und ich war nicht umsonst bei der neuen Kampagne zu Episode 3 und 4 dabei. Es hat ja seine Kritiker, aber ich mag das Spiel einfach.
Liebe Grüße
Christian