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Tudor von Corax Games ist der Herr der Ringe! Zumindest in der Brettspielwelt. Und wie der eine Ring aus dem Tolkien-Universum, so knechten die Ringe auch in Tudor die Spieler – bestmöglich die anderen! Das Material üppig, auf den ersten Blick überproduziert, kommt eine Einstiegspartie nicht über gute Mittelmäßigkeit hinaus. Kein Gollum-Effekt, der Spieler veranlasst ihren Brettspielschatz nicht mehr hergeben zu wollen. Aber so wie Obertudor Heinrich VIII seine Frauen wechselte, so tauscht Tudor äußerst beeindruckend die Spielmechanik. Hier stecken nicht nur viele Ringe drin, sondern ebenso viel modulare Abwechslung. Bin ich also doch Gollum und hab meinen Schatz in der Schachtel gefunden?

Kurzcheck: Darum geht es in Tudor

Das Ende einer Partie mit drei Spielern,

Da Tudor durch die Module ein äußerst unterschiedliches Spielgefühl erzeugt, an dieser Stelle nur die rudimentäre Grundmechanik. Das Spiel teilt sich in zwei Bereiche auf. Einmal durch die Anhörungsräume vor dem Thronsaal, in dem die Spieler Workerplacement betreiben und in insgesamt drei Räumen sechs verschiedene Aktionen mit ihren Höflingen auslösen können. Der zweite Bereich ist der Thronsaal, wo man versucht durch seine Aktionen mit Familienangehörigen in der Hierarchie aufzusteigen. Dafür braucht man die richtigen Staatskunskarten und/oder Ringe am Finger, die jeweils farblich gewissen Feldern zugeordnet sind. Heruntergebrochen heißt das, ich sammle Farben, um meine Familienangehörigen zu bewegen, die damit Ringe und Siegpunkte erobern. Das ist erstmal so einfach wie es klingt. Allerdings wechseln die Farben im Thronsaal, es gibt einen kniffligen Auslösemechanismus der Worker und vor allem sorgen die Module für mehr Abwechslung als bei der Konkurrenz.

Der Anhörungsraum

Die erste Besonderheit sind die drei Anhörungsräume. Vor jedem dieser Räume befindet sich der Spieleranzahl entsprechend begrenzte Wartestühle. Bin ich an der Reihe, darf ich einen Höfling auf einen dieser Stühle vor einen der drei Räume setzen. Sind alle Worker für die Runde gesetzt, wandern die Höflinge in die Räume. Schön im Gänsemarsch. Aber halt, auch in den Räumen ist der Platz begrenzt. Neuankömmlinge drängen alte Worker raus, auch hier in Reihenfolge. Ein spannender Verdrängungswettbewerb! Das bedeutet auch, alte Worker können, wenn nicht genügend Höflinge nachkommen, über die Runden hinweg, Aktionen auslösen. Jetzt kommt aber der größte Kniff.
Die Höflinge wollen ihre Sorgen vortragen und damit den Familienangehörigen im Thronsaal zu mehr Macht (Bewegungen) verhelfen – thematisch gut umgesetzt. Nur wer hört die Höflinge an? Dafür hat jeder Spieler einen Adligen. Dieser wird nun ebenfalls im Raum platziert. Nur in Räumen mit Adligen lösen die Höflinge Aktionen aus. Dabei ist es egal wem der Höfling oder Adlige gehört. Wichtig zu wissen: Der Adlige selber darf sogar zwei Aktionen auslösen. Nun geht das Taktieren los! Hoffe ich darauf das ein anderer einen Raum mit meinen Höflingen anhört und ich mit meinem Adligen in einem anderen Raum zwei Aktionen auslösen kann? Nur was wenn meine Mitspieler das nicht machen? Dann sitzen da meine platzierten Höflinge und erhalten keine Aktion. Vielleicht die Höflinge verteilen? Das Gerangel um die Plätze inklusive der Anhörungsmechanik mit dem Adligen ist schnell verstanden und spannend zu spielen. Bei vier Mitspielern sind allerdings bei drei Räumen zu viele Adlige im Spiel, als dass der Effekt so einschneidend ist, wie bei weniger Mitspielern. Dafür ist dann der Verdrängungswettbewerb höher.
Im Spiel falsch, zeigt dieser Aufbau aber die Mechanik. Die Höflinge vor den Räumen würden in Raum 1 den oberen gelben Worker rausdrängen, die Adligen aktivieren nur Raum 1 und 3. Gelb verliert im Raum 1 also eine Aktion und im zweiten Raum 2 Aktionen. Rot verliert nur in Raum 2 eine Aktion.

Gut verpackte Geschichte

Na, welche darfs denn sein?

Anhörungen durch Adlige, Sitzstühle vor den Aktions-Zimmern, Ausweichaktionen im Flur, dazu der Thronsaal, in dem man sich zu Heinrich VIII. hocharbeitet, das in seiner Mechanik sehr abstrakte Tudor erhält durch Thema, der grafischen Umsetzung auf und neben dem Spielbrett, einen äußerst stimmigen Anstrich. Hier greift Thema und Spielgestaltung dem Spielfluss ordentlich unter die Arme. Die Krone dieser Gestaltung ist der Rundenanzeiger! Denn die Spielrunden werde durch Porträts der Frauen von Heinrich VIII. dargestellt, inklusive Jahresangaben. Wer sich mit der spannenden Geschichte der Tudors und im Speziellen Heinrichs VIII. nicht auskennt, sollte das nachholen. Da erfährt man auch, wie man sechs Ehefrauen mehr oder weniger zur Strecke bringt. Der Rundenanzeiger ist vielleicht makaber, aber irgendwie auch herrlich nah am Thema.

Die große Überraschung

Das empfohlene Basisspiel ist auf niedrigem Kennerspielniveau. Siegpunkte erhält man durch das Erreichen von hohen Positionen im Thronsaal, dazu winken als Belohnungen weitere Ringe. Über farbige Plättchen die man auf den Thronsaal-Feldern einsammelt, erhält man nach Menge gestaffelt weitere Siegpunkte am Ende. Ausliegende Bonusplättchen in weiß oder schwarz erleichtern das Vorwärtskommen, weil sie fehlende Farben kompensieren oder ändern die Position der Höflinge auf den Stühlen – was zumindest leichte Interaktion auslöst. Dabei spielt man jede Runde nur einen Höfling, in der ersten zwei. Grundsolide und ziemlich gradlinig: Tausche Farben in Bewegungspunkte. Ich kann jeden Spieler verstehen, der einen vollen Schrank mit Eurogames hat, das er Tudor nicht unbedingt besitzen muss.
Da kommt Abwechslung auf den Tisch!
Dann schaut man sich die Module an und glaubt es kaum. Hier wird richtig umgemodelt, ganz im Sinne dessen, was Heinrich VIII. mit der katholischen Kirche angestellt hat. Plötzlich spielt man Area-Control in den Thronsaalreihen, man kann Familienmitglieder erdolchen, man setzt zwei Worker ein, oder vielleicht keine neuen. Plättchen haben feste Wertungen, manche bringen Minuspunkte. Man darf durch Bonusplättchen über andere Spieler hinwegspringen oder Plättchen austauschen. Du planst gleich mit rot nach vorn zu gehen? Schau mal, nun liegt da gelb.
Oft sorgen Module wie z.B. bei Gaia Project für andere Strategien, aber in Tudor ändert es vor allem das Spielspielgefühl. Mehr noch wie in First Class, selbst da bleibt die Interaktiondichte ähnlich. Bei Tudor kann aus einem seichten Kennerspiel, ein brutal interaktives Workergemetzel werden. Das Standardspiel hat wenig gemein mit dem, wie man Tudor am Ende spielen kann. Passend zur Geschichte, ist es für mich eines der konfrontativsten Eurogames in meinem Schrank, bei dem der Ärgerfaktor ungemein hoch ist!

Die Ringe: nur ein Eyecatcher?

Witzige und opulente Idee, die in der Praxis leider etwas instabil ist.

Auf den ersten Blick sind die Ringe ein großer Eyecather. Zum Glück haben sie auch spielerische Relevanz. Je nachdem wie ich meine Ringe auf die Finger stecke, habe ich passend zu den Aktionen im Raum, Boni. Nur beim Erhalt eines neuen Rings über den Thronsaal oder wenn mir ein Mitspieler einen Ring klaut, darf umgesteckt werden. Hier muss ich also langfristig eine Strategie planen, die dann aber auch meine Mitspieler sehen. Die Boni sind situativ stark, aber keine Gamechanger! Böse Zungen würden sie wohl zu unbedeutend bezeichnen.

Leider sind die Sichtschirme, auf die man die Ringe steckt, für meine Begriffe zu wacklig. Ärgerlich, wenn diese umkippen, bei einem Spiel, wo man viel geheim halten will. Weiter sind die Bonusaktionen auf der Innenseite der Hand abgebildet. Theoretisch sinnvoll und eingängig, in der Praxis ist der Blickwinkel aber zu steil.  Man mutiert so zum Bückling am Spieltisch! Passt vielleicht dem Heinrich VIII., alle anderen hätten sich über eine Spielhilfe in Form einer Übersichtskarte gefreut. Mir etwas schleierhaft, warum das nicht produziert wurde.

Fazit

Tudor war bei mir ein Wechselbad der Gefühle. Fühlte sich Heinrich VIII. so mit seinen Frauen? Die erste Partie, voller Begeisterung. Die Ringe sind mehr als bloße Eyecatcher, die spannende Mechanik aus Adligen und Höflingen recht frisch und vor allem die dichte thematische Einbindung und sehr spielunterstützende stimmungsvolle Grafik überzeugen. Aber recht schnell verliert Tudor in seiner Startaufstellung mit seinem sehr gradlinigen Spiel an Reiz. Für Viel- und Expertenspieler kann das schon innerhalb der ersten Partie eintreten. Statt Kopf ab, wie bei Heinrich VII., heißt es hier Schachtel zu!
Statt sich einem neuen Brettspiel zu widmen, sollte man Tudor aber durch die Module weitere Chancen einräumen! Die Grundmechanik aus Farben sammeln, um sich zu bewegen, die wenig innovativ ist, bleibt zwar immer vorhanden, dafür ist das Spielgefühl oft völlig anders. Wild kombiniert, mit drei mal drei verschiedenen Spielmodi, zeigt Tudor plötzlich Zähne. Aus soliden Workerplacement wird ein mitunter höchst interaktives, bisweilen direkt aggressives Brettspiel. Hier wird beinhart um Ringe und Mehrheiten gekämpft und mit unzähligen Sonderaktionen dem Gegner der Zug versaut. Passt zum Thema, ich hatte allerdings stellenweise ein schlechtes Gewissen oder mir platze fast die Halsschlagader – je nachdem auf welcher Seite der Aktion ich saß. Bei einem Eurogame eher außergewöhnlich. Das gefällt nicht jedem, die Bandbreite, die Tudor abdeckt, ist aber respektabel und logischerweise ist der Wiederspielreiz hoch.
Tudor
Spielinformationen
Genre: Kennerspiel | Personen: 2 - 4 | Alter: ab 12 Jahren | Dauer: 40 - 80 Minuten | Autor: Jan Kirschner | Illustration: Dennis Lohausen
SPIELSPASS
7
AUSSTATTUNG
6.5
SPIELIDEE
7.5
Positive Aspekte
Module verändern das Spielgefühl massiv
Gute Skalierung bei der Spieleranzahl
Mit Modulen z.T. sehr konfrontativ
Negative Aspekte
Ringhalter nicht optimal
Grundmechanik zu simpel
Ohne Module spannungsarm
7
Redakteur | Admin | Gründer von Brett & Pad | Website | + Letzte Artikel

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