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CivolutionCivolution gelingt etwas Unfassbares und entsprechend selten Erlebbares. Ich nenne es in Anlehnung an Theodor Fontane und seinem Roman Effi Briest, die Überraschung des absolut weiten Feldes. In mehrfacher Gestalt, denn zum einen ist Civolution so breit aufgestellt, wie wohl kein anderes Brettspiel von Stefan Feld.  Ein „weiter Feld“, eben. Es scheint, in dieses Spiel wurde einfach alles gepackt, was einfiel. Anderseits zeigt das weite Feld, ganz wie im Roman über den Ausdruck, „Ach, Luise … das ist ein weites Feld“, die eigene Begrenzung oder Flucht bei Komplexität. Meine Wissens- und deren Verfügungsgewalt im Bereich Brettspiele stößt hier anfänglich an Grenzen. Wer nun wegläuft, weil diese Einleitung in Kombination zu den Regelheftchen von 50 Seiten eine Mixtur der Abschreckung anbietet, vergisst den Einstiegssatz. Nämlich das Unfassbare. Das ist mitnichten das weite Feld oder Komplexität, sondern der Umgang damit. Willkommen zur Liebeserklärung an redaktionelle Arbeit.

Kurzcheck: Darum geht es in Civolution

Civolution ist kein klassisches Zivilisationsspiel. Im Wortspiel steckt noch Evolution. Das gepaart mit dem Thema, bei einer Abschlussprüfung an einer Simulation zu sitzen und aus dem Zufall „der Welt“ die bestmögliche Zivilisation zu schaffen, kreiert ein ganz eigenes Spielgefühl. Dein Volk könnte am Ende Facettenaugen, Fell und Höcker besitzen und dabei die Meere besiedeln, sowie viel Wert auf Ansehen und Wissen gesetzt haben. Du erkundest Landstriche, entdeckst viele verschiedene Ressourcen, baust Gebäude, erforscht Technologie, reagierst auf das wechselnde Wetter, musst dich um Nahrung kümmern und verfolgst viele verschiedene Ziele. Das Cover mag vielleicht nicht jeden Geschmack treffen, aber es bildet den thematischen Kern ab und zeigt gleichzeitig, was du hier spielerisch machst. Wer über vier Epochen seinen Stamm am besten entwickelt, ergo Siegpunkte eingeheimst, gewinnt.

Der Einstieg zu zweit ist perfekt!
Der mechanische Kurzcheck

Spielerisch basiert Civolution auf enorm umfangreiche Würfelaktivierung. Du hast sechs Würfel auf deinem Tableau liegen. Bist du dran, wählst du zwei aus und ermittelst damit durch die gewählten Augenzahlen einen Schnittpunkt. An diesem Schnittpunkt wartet dann deine auszuführende Aktion. Insgesamt 16 Aktionen bietet Civolution. Ach ’ne, da du die meisten Aktionen zweimal verbessern kannst, hast du in der Theorie 46 verschiedene Aktionen. Ding Dong, macht es da im Oberstübchen. Oder Klirr, wenn deine Synapsen aus Porzellan bestehen.  Zweites wichtiges Element ist die Vervollständigung deiner Konsole ergo Tableau. Eine fette Lücke klafft zwischen dem rechten und linken Rand. Fett, weil in Sachen Platzbedarf deine Konsole im Bereich Brettspiele als Landebahn für den Airbus A380-800 taugt. Dein Ziel: diese Lücke mit erspielten Elementen zu schließen, denn das bringt Boni und viele Siegpunkte. Entsprechend sind klassische Elemente aus Civ-Spielen wie Technologien, Einkommen oder Zwischenziele in Form von Plättchen oder Karten vorhanden, mit denen du deine Konsole füllst. Da Stefan Feld uns dieses Spiel schenkt, natürlich nicht irgendwie, sondern unter Einschränkung nach Level oder Farbe. Ein echtes Brett! Während der Ersterklärung kann Schnappatmung ausgelöst werden. Überforderung wabert durchs Zimmer. Aber …

Der mechanische Tanzbereich.

Das weite Feld

der wirklich überraschende Clou, den ich aus diversen Partien mit Erstpieler:innen aus tiefster Überzeugung hier vertrete, nach nur wenigen Aktionen läuft dieses absolut weite Feld von Brettspiel, wie von selbst. Nicht falsch verstehen, du wirst nicht optimal spielen. Bei mir schlichen sich immer wieder Gedanken ein, wie schaffst du das nur, deine Konsole bis zum höchsten Rand zu füllen? Wie schaffst du es, diese ganzen Leisten hochzulaufen? Ja, meine Güte, es ist schon eine Kunst nur an gewisse Ressourcen zu kommen oder manchmal eine simple Technologie zu bauen. Manchmal verzweifelt man einfach nur an den Aktionsmöglichkeiten, die im Grunde ja erwürfelt werden. Es gibt kein Element, wo ich nicht vorerst gegen eine Wand lief.

Und dieses Gefühl, sein eigenes Spiel verbessern zu wollen oder gänzlich andere Dinge auszuprobieren, eben weil dieses Spiel so viele Wege anbietet, bleibt auch noch nach fünf oder 10 Partien. Trotzdem stellt sich eben keine Überforderung ein. Ich komme voran. Ich, wie alle anderen, denen ich das Spiel erklärte, verstanden die Prinzipien, nach denen dieses Spiel läuft, sehr schnell. Die Symbolsprache, die innere Struktur ist dabei so klar und prägnant, ich werde dieses Expertenspiel, dieses wirklich weite Feld, auch nach längerer Abstinenz aus dem Regal ziehen und brauche keine Anleitung. Ich habe kein Expertenspiel, welches aus sich heraus, aus dem Flow, dann so schnell, so zügig läuft. Das ist absolute Weltklasse an redaktioneller Arbeit! Spielerisch aber ebenso. Keine langen Kettenzüge, sondern einfach sehr prägnante, klare und kurze Aktionen. Die Downtime ist somit für einen Klopper dieser Gewichtsklasse gering und auch mit drei Personen läuft es flott. Schau, du neues, glänzenden Kickstarter-Projekt, so macht man das, du Glitter-Blender!

Einfach nur Spielreiz pur!

Zwischen Thema …

Ich wäre damit eigentlich fertig. Soll ich hier jetzt etwa die Mechanik erklären? Die 46 Aktionen? Niemals. Wer einen Schnelldurchlauf möchte, ballert euch dieses Video rein. Das macht es besser als ich es könnte und zudem ohne 10.000 Wörter schriftlich niederzuschreiben und damit diesen Blog zu crashen. Trotzdem gibt es natürlich noch etwas zu erzählen. Das Thema zum Beispiel. Civolution macht optisch wie thematisch ziemlich viel richtig, wenn es darum geht eine Simulation in einer Prüfung darzustellen. Im Spiel tritt bei mir allerdings öfters das Thema zurück. Fokussiert bin ich auf Leisten, Ziele, Plättchen. Darum hier ein Tipp: Nehmt euch die Zeit, die Überschriften der Technologien und Plättchen vorzulesen. Ihr erschafft hier ein Volk, oft ein wildes, kreatives, dessen thematischer Kern aber immer zu den Faktoren eurer Ausbreitung passend ausgestaltet ist. Flügel, Hufen, Facettenaugen, Baumeister oder eine zähe Konstitution, es sind diese Details des Spielmaterials, die übersehen werden, aber durchaus Thema transportieren.

Dein Volk!

… und Spielreiz

Der vielleicht wichtigste Punkt folgt jetzt. Bisswunden am Arm. Kratzer im Tisch. Geschrei hallt durch Räume! Rufen die Nachbarn gleich die Polizei? Ein Tiger geht um im Wohnzimmer. Der ich-habe-Pech-und-bin-abhänig-von-meinen-scheiß-Würfeln-du-kack-Spiel-Tiger. Diese Bestie wird erscheinen, je nach Natur der am Tisch Hockenden vielleicht sogar sehr schnell. Civolution ist eben eine Prüfung. Es wirft dir Chaos in Form deiner geworfenen Würfel auf den Tisch und du sollst es bändigen. Was machst du aus deinen Möglichkeiten? Das ist zunächst für mich Spielreiz. Viel wichtiger ist aber, was Civolution anbietet. Aufgrund des weiten Feldes gibt es fast immer Optionen, ich muss mich nur anpassen. Opportunismus als Spielform, im völlig positiven Sinne.

Und mit der Zeit lernte ich ebenso, wie viele Möglichkeiten der Würfel – und Aktionsmanipulation es gibt. Auf den ersten Blick mögen Aktionen, die virtuelle Würfel mit passenden Zahlen erschaffen oder Würfelaugen manipulieren, sich wie Aussetzen anfühlen. Dieser Blick trügt, denn lieber einmal so eine Aktion ausführen und danach ein zielgerichteter Power-Move, als den Tiger herauszulassen. Mit der richtigen Balance aus Vorbereitung und Opportunismus, die gelernt werden muss – wie herrlich motivierend – wird das eigene Vorgehen immer besser.

Links der gelungene Rundenbereich. Rechts das Wetter, seine Auswirkungen und die Ereignisse.

Erschaffene Asymmetrie

Auch abseits der Würfel gibt es so viele verschiedene Wege zum Ziel. Singular? Falsch. Verdammt viele Ziele: Wetterereignisse, Runden- und Endwertungen. Dazwischen eigene gesetzte Ziele zum zielgerichteten Vorwärtskommen. Keine Lust auf Jagen für Nahrung? Deine Stämme hungern und werden hingelegt? Dann pimpe die Aktion Verpflegung und stelle hungernde Stämme einfach auf. Je nach Strategie und Ausbau der 16 Grundaktionen erarbeitest du dir nicht nur eine Asymmetrie zu anderen, sondern deine ganz eigene, motivierende Engine. Trotzdem eine Warnung: Wer keinen Spielreiz aus zufälligen Aktionszusammenstellungen pro Runde zieht, wird hier zum Frusttiger. Und erwartet auch kein Interaktionsgewitter, auch wenn sich durchaus punktuell durch Wegschnappen von Spielelementen, Mehrheiten bei Zielen oder Verdrängung von Stämmen geärgert werden kann. Für mich der einzige, aber durchaus wichtige Punkt, wo der Spielspaß keine maximalen Höhen erreicht.

Balgerei um die Leisten, Boni und Siegpunkte.

Fazit

Die Überrraschung: Trotz der Weite an Möglichkeiten in diesem Spiel, die sich aus diversen Zielen, Aktionen, Leisten und klassischen, verschränkten Mechaniken von Civ-Spielen zusammensetzen, besitzt Civolution einen unglaublichen fluffigen Flow. Es bleibt herausfordernd, es bleibt komplex, es erschlägt mit Optionen und besitzt überall reizvolle, aber durchaus spielerische Hürden und trotzdem spielt es sich ohne Downtime, prägnant und präzise auf den Punkt. Civolution bringt so Elemente zusammen, die sonst selten zusammen passen: Komplexität, enorme Abwechslung, Variabilität und eine fast gefühlte Leichtigkeit. Hierbei spielt die klare und enorm gelungene Symbolsprache eine große Rolle. Für mich ist dieser Punkt nah an der Perfektion. Spielerisch schüttet der Tanz um die richtige Balance dann enormen Spielreiz aus. Zufällige, weil ausgewürfelte Aktionsmöglichkeiten, brauchen einen gelungenen Zweiklang aus opportunistischer Ausrichtung und zielgerichteter Planung durch eigene Zurücknahme. Das liegt nicht jeder Person und die Tischkante kann hier Sparringspartner für deine Zähne werden. Die Ordnung des Chaos durch zufällige Aktionsmöglichkeiten, Wetterereignisse und diverse andere Spielelemente, hin zu einer immer wieder anders ausgebauten Zivilisation ist aber ein Garant für Spannung, Spielspaß und vor allem Wiederspielreiz. Eines der Highlights aus 2024!

Civolution
Spielinformationen
Genre: Strategiespiel | Personen: 1 - 4 | Alter: ab 14 Jahren | Dauer: 90 - 180 Minuten | Autor: Stefan Feld | Illustration: Dennis Lohausen
SPIELSPASS
9
MATERIAL
8.5
SPIELIDEE
10
Positive Aspekte
Fantastische Symbolsprache
Enorme Varianz
Hoher Spielreiz aus zufälligen Aktionsmöglichkeiten
Eine absolute Weite in den spielerischen Möglichkeiten
Sehr schnell, sehr fluffig zu spielen
Super inklusives Insert
Negative Aspekte
Umfangreicher Ersteinstieg
Thema muss aktiv abgeholt werden
Interaktion leider kein Glanzpunkt
9
Redakteur | Admin | Gründer von Brett & Pad | Website | + Letzte Artikel

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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Hallo Christian, danke für deine Rezension! Wir haben gestern unsere 2. Partie hinter uns gebracht und ich kann dir in vielem zustimmen: Die kurzen Aktionen sind klasse, die Downtime wird erst gegen Ende des Spiels höher, wenn man noch die letzten Siegpunkte rausholen will.

    Am Ende waren wir übrigens alle sehr nah beieinander, was die Punkte angeht. Also jeder von uns ist mangels Strategie erstmal durchs Spiel „gestolpert“ und die Punkte waren fast zufällig. Da braucht man erst mal einige Partien. Ich vermute, dass es dann irgendwann möglich ist, sich auch abzusetzen, wenn man alle Konzepte verstanden hat.

    Auch wenn die einzelnen Aktionen einfach zu verstehen sind, die vielen Möglichkeiten führen schon manchmal zum Gehirnknoten. Aber wem sowas gefällt: Zuschlagen!

    Antworten
    • Hallo Thomas,

      Hahahah, sag’ ich ja, es ist ein weites Feld, das mich am Anfang, gerade bei der Ersterklärung, völlig überfordert hat. Das hatte ich schon beim Artikel zum Pegasus Presse-Tag ’24 geschrieben. Ich saß da vor Civolution und dann wurden einem in 30 Minuten die Grundregeln und Aktionen erklärt und ich dachte nur, wo ist hier der Exit-Knopf. Ich hatte an dem Tag schon diverse andere Brettspiele gelernt und gespielt und war echt überfordert zu folgen. Im Spiel dann aber, fokussiert auf ein paar Sachen, fluschte es dann ziemlich schnell. Da war ich umso beeindruckter. Natürlich läuft nicht alles perfekt, dass tut es selten. Das ist aber auch Teil des Spielspaßes.

      Liebe Grüße und viel Spaß euch bei Civolution

      Christian

      Antworten

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