Faktor Mensch: Ich bin viele Gruppen
Hans Falck, deutsch-amerikanischer Sozialarbeiter und Begründer des Membership-Ansatzes, spricht in seinen Werken davon, dass es im Prinzip keine Individuen gibt, sondern auch der einzelne Mensch immer als Gruppe auftritt. Erlebtes mit Familie, Freunden, Peer-Group, der erfahrenen Gesellschaft und deren Ansichten prägen uns und diese Erfahrungen legen wir auch nicht ab, wenn wir als Einzelperson mit anderen zusammentreffen und mit ihnen eine neue Gruppe, wie z.B. eine Spielgruppe eröffnen. Nicht ein ich spricht dort, sondern ein wir. Mit Pierre Bourdieu und seinen feinen Unterschieden könnte man nun sogar über den Habitus eine Verschränkung zum angeblichen persönlichen Geschmack vornehmen. Dieser ist auch wesentlich weniger individuell angelegt, sondern auch durch die Gesellschaftserfahrung und die Position im sozialen Raum definiert.
Es sitzen also nicht vier individuelle Personen am Tisch. Sondern vier Menschen mit all der Prägung aus einer Gesellschaftserfahrung im Rücken. Positiv wie negativ. Und diese vier Leute bilden in Aushandlung zueinander und mit bzw. über das Brettspiel eine neue (Gruppen-)Erfahrung. Wir sprechen hingegen am Ende des Tages fast vermeintlich objektiv über das Brettspiel und dies aus uns, dem Individuum. Wir schreiben eine Rezension und werten auf BGG. Die Erfahrung fokussiert sich auf das Brettspiel. Der Faktor, mit wem ich es spiele, wie diese Menschen zueinanderpassen, was diese Menschen über das Brettspiel gesagt haben, welche unsichtbare „Gruppe“ sie mitbringen, wie diese den Geschmack beeinflusst, wie zusammen das Brettspiel gespielt wurde, tritt in den Hintergrund. Wir machen bei einem Brettspiel, einem Objekt der Interaktion und Gesellschaft, all die Punkte wie Spielspaß, Spielreiz und ausgeschüttete Emotionen oft in der Meinungsverkündung am Brettspiel fest. Das Brettspiel ist der Fixpunkt. Dabei kann die Gruppe im doppelten Sinne als Spielgruppe und als unsichtbare Gruppe in meinem Rücken, viel entscheidender sein, wie wir selbst als angeblich „individuelles Subjekt“ ein Brettspiel wahrnehmen. Hinterfragen wir uns? Woher kommt gerade dieser Eindruck vom Spiel? Der Argumentationspunkt, die Kritik, bin ich das mit meiner Gruppe oder ist es innewohnend im Spiel? In Zeiten, in denen viele Menschen nach einer Partie ein Brettspiel schon weglegen, weil die Auswahl so riesig ist, kann so eine Entscheidung noch fataler sein. Aber auch Markus oder ich sprechen zu euch immer durch die Erfahrung mit unseren Gruppen.
Wie bewerten?
Für Udo produziert Hitster Unmut. Ein Wort, welches Markus wohl bei dem Spiel nie in den Sinn gekommen wäre. Hitster produziert dies aber, eben zusammen mit der Gruppe. Ich selbst denke an Boonlake oder New Angeles. Zerredet und angeblich durchdrungen in der einen Gruppe, nach einer Erstpartie und der einzigen Partie innerhalb dieser Gruppe. Gescheitert, zu den Akten gelegt. Was hatte ich allerdings noch für einen Spaß mit beiden Spielen in gänzlich anderen Gruppen. Beim Genre Social Deduction ist der Spielspaß offenkundig sehr vom Gruppengefüge abhängig. Es ist in vielen anderen Brettspielen aber nicht anders. Brettspiele bieten eben Interaktion. Wie passen die Menschen am Tisch zueinander, was haben sie für einen Geschmack und welche Gruppen und damit Spielverhalten bringen alle mit? Wie reagiere ich darauf und wer bin ich in der Gruppe? Wie färbt dies auf den Spielspaß ab?
Wie wir diese Interaktion betreiben, wie „gut“ wir dies gerade zusammen können, ist zweifelsohne ein Faktor der den Spielspaß beeinflusst. Auf den B-Rex-Tagen wollte ich Passengers spielen. Markus riet mir davon ab. Er hatte schon Erfahrungen mit dem Spiel. Wir wagten es trotzdem. Am Ende der Partie hatten wir in der Gruppe auf den B-Rex-Tagen einen höllischen Spaß! Markus war überrascht, wie gut das Spiel war. Ich habe Passengers hier nun im Schrank, begeistert von der Ersterfahrung und verwundert über eine 6.5 auf BGG. Ich spielte es in mehreren Gruppen. Meine Bewertung schwankt seitdem von 6.0 bis 9.0. Schwierig.
Keine Allgemeingültigkeit
Ich möchte meine Aussagen auch nie als allgemeingültig ansehen. Sie sind abhängig von meiner Person, die nichts anderes ist als die Erfahrung aus verschiedenen Gruppen. Ihr kennt meine Gruppen nicht, ich eure nicht. Wie ein Brettspiel am Ende also wirklich ankommt, liegt im Geheimnis der Gruppe. Und auch ein Stück weit vielleicht in der Selbstreflexion, gerade, wenn ein Spiel nicht so zündet und die Kritiker-Keule schon gezückt ist. Wie aussagekräftig wäre ein Fokus dieser Kritik, wenn er die Gruppe, das eigene Selbst mit seinen vielen Gruppen im Rücken missachtet? Wenn wir ein Brettspiel ablehnen, wie sehr hat es dann damit zu tun, dass wir uns manchmal selbst im Weg stehen? Lese ich allerdings nur sporadisch in Betrachtungen zu Brettspielen. Und die Gruppe sollte vielleicht viel mehr wieder Einzug erhalten, auch in meinen Rezensionen. In meiner Wahrnehmung wird von Balance oder Mechanik am Ende einer Partie gesprochen, gerne mit Emotionen gewürzt, weniger über die Menschen am Tisch und noch viel weniger, dass womöglich vermeintlich negative Aspekte des Brettspiels eher in einem selbst zu suchen sind.
Fazit
Vor kurzem schrieb ich Folgendes an anderer Stelle schon einmal: Ich spiele lieber ein mittelmäßiges Brettspiel, vielleicht sogar ein schlechtes, mit den besten Leuten an meiner Seite, als ein Arche Nova mit Menschen, die ich nicht leiden kann oder Spielmaterial anlecken. Manch überschwängliche Rezension meinerseits, manch gelungenes Abenteuer, das explodierende Kopfkino, all das liegt auch im positiven Sinne an den Menschen, mit denen ich spiele und mit denen ich bisher gespielt habe. Eben die unsichtbaren Gruppen. Im Negativen zählt dies ebenso. Was ist da am Ende also bewerteter Spielspaß? Ein Cities Skylines mit Atmopshäre-Ben war ein cineastischer Höllenritt als Bürgermeister-Duo. Was hatte ich für einen Spaß. Das gleiche Spiel erlebte ich allerdings auch staubtrocken und spannungsarm. Wir sprechen immer über die Brettspiele, dabei müssten wir vielmehr über die Menschen sprechen, mit denen wir spielen, warum wir etwas spielen und wenn uns etwas nicht oder extrem gefällt, es am Ende nicht nur im Brettspiel suchen, sondern in uns und damit unseren Gruppen. Brettspiele heißen auch Gesellschaftsspiele, das hat seinen Grund.
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„…dass es im Prinzip keine Individuen gibt, sondern auch der einzelne Mensch immer als Gruppe auftritt.“
Bei dieser Passage hatte ich sofort meine Lieblingsszene aus „Das Leben des Brian“ wieder vor Augen:
Brian von oben aus dem Fenster zur Menge: „Ihr seid alle Individuen!“
Die ganze Menge unisone ruft: „Ja, wir sind alle Individuen!“
Danach eine einzelne Stimme: „ICH NICHT!“
So wie dem einzelnen Rufer gehts mir oft in öffentlichen Brettspielrunden.
Ich habe inzwischen ein Alter erreicht, wo ich immerhin weiß, was ich NICHT will: Punktesammeln nach immer neuen, möglichst komplexen Regelwerken.
Wenn ich bei Regelerklärungen merke, dass es mir zu viel wird, dann steige ich aus. Ich will lieber spielen als jedesmal für das im Prinzip immer gleiche Punktesammeln erst stundenlang neue Regeln lernen zu müssen. Inzwischen steige ich oft erst gar nicht mehr ein. Wenn es um anderes geht (wie Deduktion, Hidden Role/Movement), dann bin ich durchaus bereit, mich auch mit komplexeren Regeln auseinanderzusetzen. Aber bitte nicht für dieses optimierte Punktesammeln.
Zugegeben, das liegt an mir, nicht an den Spielen – wenn, dann an der schieren Masse an solchen Spielen, die einen jedesmal wieder mit neuen Regeln konfrontiert. Die meissten Spieler haben da offenbar Spass dran.
ICH NICHT! 😉
Ich kenne deine Spielgruppe nicht. Aber alleine, wenn du jetzt in der Verantwortung bist, Spiele auszuwählen, würdest du die Erfahrung deiner Gruppe mitbestimmen.
Mein Hauptgedanke hinter diesem Artikel sind halt typische Diskussionen, oft emotionaler geführt, ob am Tisch oder in Foren, wo Leute sich über Einschätzungen von Brettspielen etwas in die Haare bekommen oder sich nicht einig werden, warum dieses oder jenes nicht passt und dabei über das Brettspiel sprechen. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber selbst bei BGG, bei den Bewertungen mit Kommentar, reibe ich mir manchmal verwundert die Augen, über das, was da geschrieben wird. Ich erlebe das auch in einigen Telefonaten mit Markus in Austausch. Spielgruppen haben große Macht über Spielerfahrung aller am Tisch.
Und dann gibt es noch Menschen, die finden dann ein Brettspiel scheiße und erklären es dann allen anderen am Tisch, warum das so ist und warum genau das auch so richtig ist. Mechanik a) und Symbiose c) und überhaupt die Balance und Interaktion. Am Ende mögen sie aber beispielsweise vielleicht einfach so wie du, den Punktesalat nicht. Das sind zwei verschiedene Dinge. Das Brettspiel will so sein und das ist okay, für manche sogar echt geil, aber anstatt sich zu hinterfragen und über die eigene Person und den Geschmack zu sprechen, wird der Fixpunkt das Brettspiel. Meiner Wahrnehmung nach passiert das vor allem bei Menschen, die viele Brettspiele spielen.
Ist ja nicht so, dass ich Punktesammeln generell ablehnen würde. Spiele, die man schnell begreift und schon in der ersten Partie gut mitspielen kann, spiele ich ja durchaus gern mit – nur gibts davon meinem Eindruck nach immer weniger. Vergangenes Jahr habe ich zB „Wikinger“ von Hans im Glück aus 2007 kennen- und sofort schätzen gelernt – und dann auch einem Bekannten mit riesiger Sammlung, der es nicht mehr spielt, für einen moderaten Preis abkaufen können. Oder Project L, das mag ich auch.
Aber meinem Eindruck nach kommt es vielen Spielern heute nicht in erster Linie darauf an, auch bei schlankem Regelwerk knackige Spieltiefe zu erleben – sondern möglichst viele Verzahnungen, komplexe Regeln mit unzähligen Ausnahmen sind die Dinge, die Begeisterung auslösen. Und möglichst immer mehr davon. Was ich mag, gilt bei vielen allenfalls als „Absacker“.
„Meine“ Spielgruppe gibt es daher nicht, die müsste ich mir backen (ACHTUNG, das ist ausnahmsweise KEIN Anglizismus 😉 )
Moin und Frohes Neues!
Das empfinde ich als sehr wichtigen Faktor. Wie Florian es sagt, ist es sehr gut, wenn die Spielgruppe ein bisschen durchscheint, weil es das Erlebnis sehr stark beeinflusst.
Bei mir zB besteht die Runde in der Regel aus meinen beiden Jungs und mir. Meine Frau mag sehr wenige Brettspiele (leider). Meine Jungs sind übrigens unvorhersehbar was den Geschmack angeht…
Einiges kann ich nicht mit ihnen Spielen auch wenn es weit und breit super rezensiert wird. Anderes, dass sie sehr mögen, kann ich nicht auf den Tisch bringen, wenn meine Eltern dabei sind. Und auch die Jungs sind untereinander selten einig – wir verhandeln immer ein Programm für eine Reihe von Spielrunden im Vorraus, damit beide ihre Favoriten unterbringen können.
Am Ende können alles gute Spiele sein, aber sie kommen eben nicht immer und überall an (My lil Everdell, *seufz*). Spiele stehen halt in einer Beziehung zu den Spielenden, und wie bei fadt allen Beziehungen ist es nie die Schuld einer einzigen Seite, ob eine Beziehung funktioniert oder halt nicht.
Frohes Neues dir auch.
Danke in zweierlei Hinsicht für diesen Text. Erstens weil solche Texte viel zu selten zwischen „Top 86 Listen“ und schnell nach Erscheinen rausgehauenen Rezensionen sind.
Zweitens weil ich es auch als sehr wichtig empfinde, wenn ein Spiel so rezensiert wird, dass man herauslesen oder hören kann, in welcher Situation und Gruppierung es auf welche Art ankam.
Udo Bartsch oder Ben Törk gelingt es oft beiläufig auf die Mitspieler einzugehen. Gerade große YouTube Kanäle klingen oft so als gäbe es gar keine Mitspieler. Das halte ich für eine Fehlentwicklung.
Mehr Menschen in den Rezensionen durchscheinen lassen, das wäre doch ein toller Vorsatz für 2025!
Frohes neues alle zusammen.
Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen: Der Spielspaß oder auch das Erlebnis hängt vom Zusammenspiel des Spiels, der Gruppe und auch noch der aktuellen Situation ab. Wie sind wir gerade in der Verfassung? Haben wir Lust auf ein neues (vielleicht komplexes) Spiel oder sind wir von der Arbeit ausgebrannt und wollen einfach nur entspannt etwas spielen? Dann gerne ein Spiel, welches wir alle schon mal gespielt haben und die Regeln nicht komplett neu gelernt werden müssen.
Wir hatten mal einen Abend, da wollten wir voller Euphorie mit zwei neuen am Tisch unser geliebtes Tsukuyumi spielen. Das ist aufgrund der Umstände, dass man sich soviel zu erzählen hatte und die Köpfe eher in die Gläser, denn in die Anleitung, gesteckt hatte, grandios gescheitert. Wir haben nicht mal die Regelerklärung geschafft. Das war einfach too much. Am Ende ist es dann „Don´t drop the soap“ geworden. Mit einer Komplexität von 1,06 auf BGG war es für diesen Abend genau das richtige Spiel. Ist es daher ein objektiv „gutes“ Spiel? Mit Sicherheit nicht. Subjektiv für den Abend war es das. 🙂
Anderes einfaches Beispiel: Schummel Hummel mit meinen Kindern. Haben die zu Weihnachten bekommen und finden es grandios. Ich ebenso mit denen…..wenn sie denn nicht übermüdet oder hungrig sind. Dann fange ich das lieber gar nicht erst an…..jedenfalls, wenn ich das VORHER merke und nicht erst während des Spiels.
Nur eine Note auf BGG oder hier kann das alles natürlich nicht abbilden. Als Orientierung kann die aber schon gut dienen, finde ich. Ebenso die Meinung von bestimmten Youtubern, Bloggern oder anderen Buddies. Wenn man da welche findet, die einen ähnlichen Geschmack haben, ist das super im Dschungel der ganzen Neuheiten. Und wenn man dann noch die Situation in der Runde berücksichtigt und ein passendes Spiel auf den Tisch bringt, steht einem wundervollen Spieleabend nichts mehr im Wege.
Mir fällt da anhand von Alfs 😉 Beispielen gerade noch ein Beispiel ein: CRYPTID, eigentlich derzeit mein Lieblingsspiel.
Ich liebe das Spiel – aber wenn mal wieder jemand dabei sitzt, der/dem man zigmal – vor und noch während des Spiels aufgrund auftretender Ungereimtheiten – erklärt, dass eine im Hinweis genannte Geländeart IMMER mit zu den Gebieten gehört, wo das Cryptid versteckt sein kann (ja, es geht eigentlich nur um die leichten Szenarien, die anderen kommen eh nur mit verlässlichen Spielern auf den Tisch), und die trotzdem permanent falsche Hinweise geben (wollen? – denn so beratungsresitent, wie mir schon mehrfach untergekommen, kann man eigentlich gar nicht sein!), die das Spiel torpedieren, dann wird selbst ein Lieblingsspiel zur Qual.
Vielen Dank für eure Gedanken, die sich sehr interessant gelesen haben. Ich bespreche ja öfters Spielsituationen aus Brettspiele, in denen auch andere Menschen vorkommen. Oft eben für besagte Spielsituationen. Vielleicht gehe ich das auch auch noch etwas tiefer an. Letztendlich soll es am Ende ja meine Sicht bleiben, nur die kann ich hier vertreten. Und falls Diskrepanzen auftauchen, wird das ja ebenfalls schon thematisiert.
Wichtig ist die Nachvollziehbarkeit. Hier hat Gordon etwas wichtiges angesprochen. „Man muss“ seine Leute finden, wo eine gleiche Schwingung besteht, ansonsten sind Bewertungen schwierig einzuordnen. Darum darf am Ende eine Rezension aus meiner Sicht auch nicht zig Meinungen abbilden. Woher die eigene Meinung kommt, werde ich vielleicht noch stärker thematisieren.