Lesezeit: 6 Minuten
Phoenix New HorizonPhoenix New Horizon ist Medizin. Kennt ihr diese Tage, wo nicht nur mit zwei linken Daumen aufgestanden wird, sondern auch mit zwei linken Gehirnhälften? Ich torkele an solchen Tagen durch Wortfindungsstörungen, stelle die falschen Fragen, gebe dumme Antworten und bin am Ende des Tages stolz, dass ich meine Hose richtig herum trage. Für solche Tage gibt es nun was von Ratioph… äh Perro Loko Games. Die Wirkung ist genial und setzt einfach immer ein: Ich fühle mich beim Spielen von Phoenix New Horizon verdammt schlau. Der Impuls, sich vor Genialität ständig selbst auf die Schulter zu klopfen, ist mechanisch eingewoben. Willst du das auch fühlen? Dann folge mir …

Kurzcheck: Darum geht es in Phoenix New Horizon

Weltuntergang. Alle leben in Bunkern. Jetzt bricht allerdings ein neues Zeitalter an, denn wir versuchen, die Erdoberfläche neu zu besiedeln. Post-Apokalypse, oder so. Dabei errichten wir Generatoren für Energie, bauen dann Gebäude, die entweder Nahrung, Wohnraum oder Militär zur Verfügung stellen und versuchen, unsere Population zu entwickeln. Das Thema passt, ist trotzdem nicht die Stärke des Eurogames. Das Material ist schick und üppig, dazu in einer kleinen Schachtel für einen Preis, der überrascht.

Spielerisch ist der Motor von Phoenix New Horizon Workerplacement, durch den sich eine Engine aufgebaut wird, um immer mehr im Spiel zu erreichen. Langsamer Einstieg, hochgradige Explosion der Möglichkeiten am Ende. Dazu gesellt sich Gerangel um Bauplätze auf dem Spielbrett und ein Wettrennen um die diversen, modular ausliegenden Wertungsplättchen für das Spielende. Wer zuerst ankommt, erhält einen höheren Multiplikator. Klingt jetzt gewöhnlich? Und bei Workerplacement schon eingeschlafen? Tja, genau hier holt Phoenix New Horizon den Überkniff raus.

Phoenix New Horizon
Kleinere Schachtel, üppiges Spiel!

Die WTF-Basis

Du hast nur drei Worker. Dazu nur vier Runden. Macht 12 Aktionen. Gleichzeitig siehst du ein komplexeres, auszubauendes Tableau und diverse Bauplätze auf dem Spielbrett. Der Spielstart ist nach dem Motto „WTF“ kreiert. Wie soll das alles gehen? Dein Benzin, die Hauptressource im Spiel für fast alles, ist zudem knapp. Dazu ist die Verschränkung enorm. Tanzen wir fürs Feeling nur einmal kurz durch: Du brauchst Reaktoren, um Gebäude zu bauen, die Gebäude auf dem Tableau müssen aber durch die Energieleiste freigeschaltet werden, die wiederum dein Benzin-Einkommen beeinflusst, aber gekoppelt an deine technologische Fortschrittsleiste. Das ist die maximal gekürzte Zusammenfassung. Populationtracks, Gebietsboni und Auftragskarten habe ich im Symbiosen-Tanz ausgeklammert. Ich saß bei der Erstpartie mit zwei linken Gehirnhälften vor diesem Spiel und fühlte mich anfänglich verarscht.

Phoenix New Horizon
Tableauausbau macht Spaß!

Einmal Beförderung, bitte!

Der Witz ist nun aber das wirklich innovative Workerplacement-Spielbrett, welches einer Art Entwicklungsdiagramm entspricht. Alle drei Worker von allen Spielenden starten mittig auf der untersten Stufe. Bist du dran, hast du direkt eine Entscheidung zu tätigen: Stellst du deinen Worker auf eines der Aktionsfelder links oder rechts vom Start. Die dort abgedruckten Aktionen sind unterschiedlich! Den Weg rechts einschlagen bedeutet, Kraftwerke zu bauen oder Entwicklungspunkte zu generieren. Der Weg links führt zum Gebäudebau und zu Fortschritten auf dem Populationstrack. Du hast aber noch eine weitere Wahl. Du kannst deinen Worker befördern. Dazu gibst du Benzin ab und stellst ihn eine Stufe höher, aber auch hier, entweder links oder rechts. Auf der zweiten Stufe warten völlig andere Aktionen und das natürlich auch links und rechts des Weges. Und so verästelt sich das Spielbrett nach oben immer weiter.

Das ist dahingehend interessant, weil die Aktionen höherer Stufen neue Möglichkeiten bieten, aber eben auch andere Aktionentypen. Eine Stufe zurückgehen ist nicht möglich! Du verlierst also auch Aktionsmöglichkeiten. Die alles entscheidende, extrem motivierende Frage lautet also, mit welchem Worker gehst du in welche Richtung und zu welchem Zeitpunkt dieses Entwicklungsdiagramm hoch? Wirklich genial! Noch genialer wird es, weil ab der zweiten Stufe die Aktionsfelder in das Tableau beim Spielaufbau gepuzzelt werden. In jedem Spiel sind die Wege und damit verknüpfte Aktionsmöglichkeiten anders. Brutal geil! Dazu gesellen sich dann noch Timingkonflikte und Interaktion, denn sind gewisse Felder auf einer Stufe schon besetzt, dürfen nachfolgende Worker kostenlos eine Stufe aufsteigen. Erreichst du das Ende eines Pfads, was durchaus viel Arbeit ist, wird der Worker wieder auf die unterste Stufe gestellt. Keine Bestrafung, denn du hast jetzt einen weiteren Zug und beginnst das Spiel von vorn! Leute, ich bin so verliebt in diese wirklich frische Art des Workerplacements!

Phoenix New Horizon
Je nach Personenanzahl hat man einen anderen Aufbau. Dies ist die Seite für zwei Personen.

Was gefällt sonst?

Kennt ihr das, wenn ein Brettspiel einen an den Pranken hat und plötzlich steht man auf, weil man irgendwas Krasses abfeuert? Ich stand hier in der ersten Partie nicht. Ich machte Breakdance! Gerade die Kombo-Effekte motivieren. Das sind Momente, wo alle am Tisch nickend Beifall klatschen. Verdammt, war das ein schlauer Zug von mir! Da ist sie, die Medizin. Ermöglicht durch Boni, weil Bezirke z. B. verbunden werden, die es wiederum erlauben, auf dem Populationstrack nach oben zu laufen, was infolgedessen Boni und Sonderaktionen aktiviert, die am Ende auch noch die Erfüllung einer Auftragskarte auf der Hand einlösen, die wiederum wieder etwas ausschüttet. So wird aus einer Aktion und dem Bau eines teuren Reaktors ein fulminanter Power-Zug, mit zwei weiteren gebauten Gebäuden, einer eingestreuten Wertung und mehr Ressourcen als beim Rundenstart. Selbst ungeübte Erstspielende erleben diese Momente. Vielleicht gewinnst du nicht das Spiel, aber mitunter Spieler:in der Runde, das ist sicher drin!

Phoenix New Horizon
Diese Aktionen liegen in der nächsten Partie woanders.

Ansonsten motiviert der Kampf um die Siegpunkte. Jede gewertete Kategorie muss selbst erspielt werden. Und das in besagten Wettrennen. Welche Ziele steckst du dir? Welche Wertungskategorien passen zu deiner Strategie? Worauf spielen die anderen? Gerade hier schlummert viel Interaktion. Der Clou: Die Wertungskategorien erreichst du oft nur über das Ende des schon beschriebenen Entwicklungsdiagramms auf dem Workertableau oder bei den Populationstracks, die ebenso durch Abzweigungen glänzen. Welche Pfade gehst du? Hast du als spielerisches Ziel das Ende des Pfads, weil dort eine Wertungskategorie wartet, die du erreichen willst? Das Problem könnte sein, dass dieser Pfad aber mit Aktionen (Entwicklungsdiagramm) oder Boni (Populationstracks) gar nicht zu deiner Strategie passt. Wie gesagt, in jeder Partie ist durch die Modularität der Weg anders gepflastert. Stetige krasse Kettenzüge und Power-Moves erfordern entsprechend viele motivierende und langfristige Planungsspielereien.

Phoenix New Horizon
Drei der neun ausliegenden Wertungskategorien.

Nachsitzen!

Was haben Power-Aktionen und Kettenzüge für Nachwuchs? Genau, Downtime. Während die ersten Runden noch zügig abgewickelt werden und Phoenix New Horizon fast als rasch zu bezeichnen ist, ändert sich dies ab der dritten Runde. Spätestens die letzte Runde raubt für sich schätzungsweise 50 % der Spielzeit. So sehr auch das Kombogewitter begeistert, nach hinten raus hat es Tendenzen leicht zäh zu werden. Es gibt auch noch ein weiteres Problem zum Ende des Spiels: Unübersichtlichkeit. Die grellen Farben gefallen, aber die Übersicht zu behalten, welche Gebäudeart nun gebaut wurde, welche Boni eingestrichen werden können und wer wo auf welcher Leiste steht, wird zunehmend schwerer, wenn sich das Spielfeld füllt. Und du musst es ständig checken. Für Aufträge, für Siegpunkte oder  Multiplikatoren. Unelegant!

Und die englische Anleitung ist eine Katastrophe. Ja, es ist ein kleiner Verlag und das Spiel sollte sicher zur SPIEL ’24 noch fertig werden, aber Copy-and-Paste-Fehler, spanische Absätze und eine wilde Struktur machen das Erlernen schwer. Hier kann Frosted Games mit der kommenden deutschen Version sicher besser punkten. Diese negativen Schattenseiten lassen Phoenix New Horizon zu keinem schlechten Brettspiel werden, aber fürs obere Regal reicht es nicht ganz, wenn auch die Anpassung an die Personenanzahl vorbildlich gelöst ist.

Fazit

Wer gerne mit fast nichts startet und bei nur wenigen Aktionen durch mannigfaltige wie langfristige Planung von Kombo-Gewittern am Ende in hunderten Siegpunkten baden mag, der darf, nein muss sich Phoenix New Horizon anschauen. Der größte Gewinn des Spiels ist sein außergewöhnlicher Ansatz, wie mit Worker umgegangen wird. Das maximal modulare Entwicklungsdiagramm mit all seinen spielerisch hochgradig entscheidenden Abzweigungen, auf denen die Worker in Interaktion zueinander wandeln, ist superb! Darum wickelt sich bekannteres wie geheime Aufträge oder eine gelungene Tableauentwicklung. Die hohe Verzahnung und der Kampf um die Wertungskategorien motivieren zudem über viele Partien hinaus. Weil die Anpassung an die Personenanzahl vorbildlich ist, das Material glänzt, findet man Patzer nur in der Anleitung und einer erhöhten Downtime zum Spielende. Kleinigkeiten, die nicht verhindern, dass das Werk von Jorge J Barroso ein wirklich gutes Kennerspiel ist.

Phoenix New Horizon Von Workern und Pfaden
Spielinformationen
Genre: Workerplacement | Spieler: 1 - 4 Spieler | Alter: ab 14 Jahren | Dauer: 90 - 150 Minuten | Autor: Jorge J. Barroso | Illustration: Jorge Tabanera Redondo
SPIELSPASS
8
MATERIAL
8
SPIELIDEE
8.5
Positive Aspekte
Grandiose und frisches Workerplacement
Hohe Variabilität
Schönes Tableaubuilding
Für Fans von Kettenzügen
Negative Aspekte
Zum Ende hin hohe Downtime
Anleitung (englische Version) fehlerhaft
Sehr bunt und unübersichtlich
8.2
Redakteur | Admin | Gründer von Brett & Pad | Website |  + Letzte Artikel

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