Kurzcheck: Darum geht es in Stationfall
Die Einleitung sollte erste Klarheit geben. Eine Raumstation fällt auseinander und allen „Passagieren“ bleiben nur noch wenige Minuten, ergo Spielrunden, um ihre ganz persönliche Agenda zu erfüllen. Die sind natürlich oft diametral angelegt, aber selbst wenn das Hauptziel wie Sterben oder Überleben gleich sein kann, sind Untermissionen in Details unterschiedlich. Zig zufällig ausgewählte Charaktere sind zu Spielbeginn dabei auf der Station und ihr könnt alle steuern. Richtig gelesen, obwohl jeder von euch zu Spielbeginn geheim einen Charakter verkörpert, mit diesem seine Ziele erreichen möchte und durch einen zweiten gezogenen Extrapunkte einheimsen kann, hast du die Kontrolle über alle. Alle anderen am Tisch aber auch. Entsprechend ist Kontrolle der absolut falsche Begriff. Shared-Worker-Aktivierung ist das Motto! Jeder Charakter besitzt zudem spezielle Fertigkeiten. Der Affe klettert durch Luftschächte, der Oberst öffnet Sicherheitstüren oder die Mechanikerin repariert Roboter. Dazu gesellt sich eine extrem umfangreich aufgebaute Station. Mehrere Etagen, viele Räume und alle mit einer logischen Aufgabe bzw. Aktionsart. Schnell gehen Charaktere, deren Fähigkeiten und Ziele im Einklang mit der Raumstation eine Symbiose ein und dessen Ergebnis ist eine hohe Immersion.
Der mechanische Kurzcheck
Mechanisch ist Stationfall einfach gehalten, auch wenn die schätzungsweise 20+ Grundaktionen etwas anderes suggerieren. Bist du dran, aktivierst du einen Charakter, indem du deine Aktionsscheibe auf diesen platzierst. Nun hat dieser Charakter zwei Aktionen plus eine freie Aktion. Fertig. Legst du deine Aktionsscheibe auf einen Charakter, der schon eine Aktionsscheibe besitzt, hast du nur eine Aktion. Die Aktionsschreiben verbleiben dabei ununterbrochen auf den Charakteren. Es gibt nur fortlaufende Runden, keine Rückholphase. Bedeutet: Es werden in der Regel von allen am Tisch immer wieder unterschiedliche Charaktere aktiviert. Letzter Kniff: Du kannst Einflusswürfel auf einen Charakter legen. Hast du nämlich nicht die meisten oder zumindest gleich viele Einflusswürfel auf einem Charakter, darfst du ihn nicht aktivieren. Ich nenne es Charakter-Area-Control.
Umfangreich und logisch
Die Ersterklärung dauert, weil es einfach so viele Aktionsmöglichkeiten gibt und auch die Raumstation erklärt werden muss. Der Witz: Es ist eigentlich alles vollkommen logisch und genau das macht die Aktionsvielfalt merkbar, ja fast natürlich. Ein paar Beispiele gefällig? Du hast als Verbannter einen Schraubenschlüssel und in deinem Raum steht ohne Schutz der Ingenieur. Natürlich kannst du ihn K.O. schlagen. Wer K.O. ist, kann auch bei Bewegung mitgeschleift werden. Dinge können auch geworfen werden. Brandbomben z.B., die du in der Produktionsanlage herstellen kannst. Du kannst aber auch Bewusstlose ins All durch eine Schleuse werfen. Oder Ausrauben. Ups. Du kannst mit einem Schraubenschlüssel auch einen Raum zerstören. War das etwa ein Kraftwerk? Huch, Licht aus. Jetzt kann man andere K.O schlagen, ohne verdächtigt zu werden. Wer nämlich verdächtigt ist und dann Beweise in der Sicherheitszentrale hergestellt und im Sendungszentrum zur Erde geschickt werden, kann als Schuldiger nicht mehr gewinnen.
Und verdammt, ohne die offizielle Aufgabe der Station auf der Brücke, natürlich nur mit Offiziersfähigkeit aktivierbar, sind die ganzen Rettungspods verschlossen. Wie fliehen wir also? Vielleicht Projekt X aus dem Forschungslabor befreien? Das tötet vielleicht alle auf der Station, aber dafür werden die Rettungspods entriegelt. Wir können aber auch die Antimaterie aus dem Magnetkäfig des Reaktors reißen. Dann explodiert die Station allerdings innerhalb von vier Runden, aber hey, die Rettungspods sind offen. Vielleicht schmeißt ja jemand die Antimaterie ins All? Machst du das? Aber machst du das auch wirklich? Oder soll die Raumstation untergehen? Wir könnten gemeinsam auch einen Charakter K.O. schlagen und in die Notfallkapsel schleppen. In dieser speziellen Kapsel können Passagiere immer fliehen, aber nur wenn sie einen bewusstlosen Menschen mitschleppen. Wer ist das Opfer?
Vom du zum Wir
Hast du gemerkt, wie ich im letzten Absatz vom du zum wir gewechselt bin? Folgender Satz ist elementar, vielleicht der elementarste dieser Rezension: Stationfall ist vom Charakter und seiner Ausführung ein Eurogame, von der Immersion und dem Zufall klar Ameristyle und beides wird gehalten von einem zwingenden, omnipräsenten Verhandlungcharakter. Das ist in seiner Zusammenstellung genauso fragil wie innovativ. Stationfall ist somit ein politisches Spiel. Es gibt in der Regel viel zu wenige Runden und vor allem Aktionen, die du zielgerichtet und im Einklang deiner großen Agenda für dich ausführen kannst. Manchmal kannst du sogar gar nichts Zielführendes machen. Das weiß nur keiner. Also verkaufe dich und kaufe dafür von anderen etwas ein. Du brauchst die Aktionen von anderen. Hier etwas hergestellt, dort eine Tür geöffnet oder Charakter X, Y, Z an Ort A, B, C. Natürlich wollen das alle irgendwie und vor allem meist anders. Das ist der Spielreiz.
Wo ist also euer Schnittpunkt? Und wo wird getäuscht? Wie wird aggressiv Druck ausgeübt? Du möchtest den Oberst unbedingt weiterbewegen? Zack, ich haue ihn genüsslich K.O.! So, nun helfe mir doch beim Affen und ich rette deinen Oberst. „Liebster Martin, wollen wir nicht, dass die Mechanikerin nach oben zu der Sicherheitszentrale geht?“, säusele ich mit einer Ahnung für sein Ziel. So bewegen wir im Einklang die Mechanikerin über zwei Runden nach oben, nur damit ich sie kurz vor dem Ziel nach rechts in den Reaktor bewege. Hey, die hat einen Schraubenschlüssel, damit zerstöre ich jetzt den Reaktor. Was soll ich denn in der Sicherheitszentrale? Kann so kommen, muss es aber nicht. Mit Bro-Fist sich aus der Patsche helfen und gemeinsam große Aktionen starten sind ebenso drin. Aktionen, Gegenaktion und wieder ein Konter. Im Wechselspiel der Verhandlung zwischen allen. Ich könnte euch jetzt zig Geschichten erzählen. Aufgrund skurriler, überraschender wie auch saudummen Aktionen. Ich habe hier wirklich Tränen gelacht. Das gelingt nur wenigen Spielen.
Timing
Geheime Rollen und deren Ziele erfordern bei Stationfall verdecktes Agieren. Mehr noch, du kannst deine Spielziele durchaus vorbereiten, ohne jemals deinen eigenen Charakter zu gebrauchen. Spätestens im letzten Drittel sollte man aber offensiver seine Rolle spielen, vielleicht sogar ganz aufdecken. Nun kann auf normalen Wegen niemand mehr deinen Charakter steuern. Hier erfordert das Spiel also nicht nur einen hohen Grad an Verhandlungstalent, sondern auch ein Gespür für das richtige Timing. Inkludiert ist hier, dass Stationfall fürs Erlebnis gespielt wird und erst in zweiter Instanz, um zu gewinnen. Ansonsten kann es frustrierend werden.
Kein Nemesis
Kurz noch zu Nemesis. Dieses Spiel generiert über viel Zufall beim Entdecken, Kämpfen und Finden von Gegenständen und Ereignissen ein zufälliges Szenario des Untergangs, bei dem man sich oft kooperativ dagegenstemmt, um in den besten Momenten Verrat zu begehen und alleine abzuhauen. Ein absoluter Knaller von Spiel. Bei Stationfall generieren die Personen am Tisch völlig ohne Zufall ihr ganz eigenes Chaos. Es ist wesentlich direkter, aggressiver, politischer und weit entfernt von einem Dungeon-Crawler, bei dem viel selbstbestimmter agiert wird. Stationfall hat Anleihen beim Setting, das Spielgefühl ist gänzlich anders.
Nichts für dich!
Kurzes abgewandeltes Beispiel, welches ich bei BoardGameGeek aufgeschnappt habe. Markus bewegt die Piratin zwei Schritte ins Biolabor. Er will da nächste Runde, dann nur mit einer Aktion, einen Beweis über das geheime Projekt-X herstellen. Eine Aktion und nicht zwei, weil, ihr erinnert euch, die Piratin diese Runde schon aktiviert wurde. Ich bin dran. Ich aktiviere die Piratin. Auch nur eine Aktion. Ich bewege die Piratin aus dem Biolabor. Fertig. Was macht Markus? Die Piratin wieder nur mit einer Aktion ins Labor bewegen? Der Kreislauf des Todes. Dumm? Sicher! Zielführend? Nein. Verlieren beide? Vielleicht. Ist es lustig, wenn da anscheinend eine maximal verwirrte und entscheidungsunfreudige Piratin ihren Tanz aufführt? Verneinst du diese Frage, ist Stationfall nicht dein Spiel. Zugegeben, ein Extrembeispiel, allein die Einflusswürfel könnten hier die Lösung sein, aber du bist hier eben selten Meister:in deiner eigenen Lage. Je mehr Personen am Tisch, desto stärker. Das kann als absolut reizvoll, positiv chaotisch und ulkig oder als machtloses, spaßbefreites und destruktives Spiel aufgefasst werden.
Und Obacht, die Anleitung von Stationfall ist extrem suboptimal. Die Hauptanleitung ist eher ein niedergeschriebenes, fast verwirrendes Let’s Play und die andere Spielanleitung wirkt eher wie ein F.A.Q. Eine klassische Anleitung sucht man hier vergeblich. Das macht mit der Vielzahl an Charakteren und Aktionsmöglichkeiten den Einstieg nicht einfach. Und glaubt mir, schnell aufgebaut ist hier auch nicht angesagt. Vielleicht alles insgesamt sogar recht sperrig. Aber nach der ersten wilden Aktion im Spiel, bei der alle ungläubig die Augen aufreißen, ist das vergessen.
Fazit
Das Spielejahr gibt sich zum Jahresende Mühe, damit die Top 5 2024 noch einmal richtig spannend werden. Abseits vom eigentlich schon als kompliziert zu bezeichnenden Einstieg hat mir dieses Spiel den Spaß in den Tisch gelötet. Dieses absolute Chaos, diese erlebten Situationen, die einem immer wieder ungläubig die Raumstation unter den Füßen wegreißt, ist einfach unfassbar. „Das passiert hier jetzt nicht wirklich, oder?“, müsste der Untertitel zu diesem Spiel sein. Affen, Antimaterie und Aliens, hier gibt es irgendwie alles. Kopfkino und Spielspaß ohne Ende!
Allerdings ist Stationfall spielerisch als fragil zu bezeichnen und ziemlich sicher nicht bedenkenlos zu empfehlen. Entsprechend schwierig gestaltet sich das Fazit. Es ist auf der einen Art nüchternes, sehr enges, eurogameartiges Aktionsmanagement, das auf empfindliche Elemente wie Verhandlung, Verrat, Kommunikation und Timingkonflikte bei der Offenbarung von Rollen setzt. Falsche Gruppe und das Ding floppt wie HD-DVD. Kennst du nicht? Sag’ ich ja. Hast du hingegen die richtigen Personen am Tisch, startet das Feuerwerk um die sinkende Raumstation. Unfassbar großer Wiederspielreiz durch viele bizarre Charaktere, eine heftige Immersion aufgrund der mannigfaltigen Aktionsmöglichkeiten und extremer Spielwitz durch das kreierte Chaos der Mitspielenden. Es dauert keine fünf Sekunden, und ich renne schreiend als verrückter Ingenieur durch eine untergehende Raumstation, statt auf einfache Holzmeeple zu starren. Gibt es Beeindruckenderes?
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