Lesezeit: 6 Minuten
EvacuationKonnte Evacuation die großen Erwartungen erfüllen? Das war die für mich spannende Frage, schließlich war Evacuation in meiner Top-Liste zur SPIEL ’23. Zudem glänzte der Autor Vladimír Suchý schon mit diversen Brettspielen, allen voran dem Knaller Underwater Cities. Mich reizte an Evacuation vor allem das ungewöhnliche Thema und deren interessante spielerische Umsetzung. Der Name ist hier nämlich Programm. Alles dreht sich um die Evakuierung einer ganzen Zivilisation und das stellt einen durchaus vor spielerische Herausforderungen!

Kurzcheck: Darum geht es in Evacuation

Der Planet ist im Arsch! Was tun? Natürlich werden Raumschiffe gebaut, die Bevölkerung genauso wie die Industrieanlagen verfrachtet und zum nächsten Planeten verschifft. Als Hamburger, der das Desaster um den Elbtower oder die Elphi kennt, weiß man natürlich, dass dies keine Sache von wenigen Stunden, Tagen oder gar Monaten ist. Wäre Hamburg für diesen planetaren Umzug verantwortlich, wir müssten wohl in Jahrhunderten rechnen. Gut, dass wir in Evacuation die Verantwortung selber tragen. Da frisst so ein Umzug weniger Zeit. Graue Haare kannst du davon trotzdem bekommen. Und genau das ist doch die Ziellosung eines jeden Heavy-Euro, oder?

Spielerisch ist die Sache zunächst interessant, weil wir doppeltes Engine-Building betreiben. Aus meiner Sicht ziemlich innovativ. Du hast auf der einen Seite des Spielbretts zum Spielstart den alten Planeten, auf dem deine fertige Engine läuft. Industrieanlagen und die Bevölkerung sind platziert und produzieren Nahrung, Energie und Stahl. Clou: All die Ressourcen wandern auf die rechte Seite deines persönlichen Tableaus und dürfen in der Aktionsphase nur für die Aktionen auf dem alten Planeten genutzt werden. Die andere Seite des Spielbretts und des persönlichen Tableaus steht hingegen für den neuen Planeten. Du willst hier natürlich Industrie aufbauen und Bevölkerung platzieren, hast aber keine Engine! Ergebnis: Einnahmen gleich Zero! Damit lässt sich schlecht was aufbauen. Nach vier Runden ist das Spiel dann auch schon vorbei. Siegpunkte bringt nur der neue Planet. Noch schlimmer: Alles, was auf der alten „Seite“ noch steht, ballert dir Minuspunkte rein wie Mike Tyson an Ohren knabbert. Also … ?

Spielaufbau für zwei Personen.

Shuttle-Service

Entsprechend reißt du alte Industrieanlagen ab, verfrachtest diese inklusive Bevölkerung in gebaute Raumschiffe und fliegst diese am Ende jeder Runde zu deinem neuen Planeten. Nun hast du dort Ressourcen, Industrieanlagen und Bevölkerung und kannst dort deine Engine aufbauen. Nun darf sich allerdings gefragt werden, wie damit umgegangen wird, dass die alte Welt weniger produziert! Du hast die Abrissbirne geschwungen. Weniger Nahrung, Energie und Stahl sorgen dafür, dass du eben weniger bauen kannst. Auch die Restbevölkerung musst du noch ernähren. Denn eins ist klar, mit einem Raumschiffflug schaffst du nur einen Bruchteil der erforderlichen Evakuierung.

Raumschiffe können zudem nicht direkt zurückfliegen und dürfen oft nur sehr bestimmte Arten von Gütern transportieren. Heißt, ein gebautes Raumschiff ist nur alle zwei Runden am alten Planeten abfahrbereit angedockt und kann nie alles transportieren. Und das auch nur, wenn du die Energie für die Rückreise bezahlen kannst. Natürlich vom neuen Planeten bezahlt! Weiterhin musst du dich um die Zufriedenheit und Nahrungsvorräte für die Bevölkerung des neuen Planeten kümmern. Ansonsten drohen empfindliche Strafen. Jonglieren, Freunde, Jonglieren! Das ist das Motto beim Spiel mit den zwei Engines und das macht einfach brutal viel Laune.

Geniale Aktionsmechanik

Sorry Leute, jetzt tauchen wir etwas tiefer in die Mechaniken ein. Mache ich aber auch nur, weil ich neben der Evakuierung die Aktionsausführung in Evacuation massiv feiere. Grundsätzlich hast du auf deinem Tableau verschiedene Aktionsmöglichkeiten. Willst du eine Aktion ausführen, legst du eine deiner Karten, die nur als Markierung fungieren, unter die Aktion und führst sie aus. Dabei rückst du zusätzlich auf einer Leiste deinen Aktionsmarker einen Schritt weiter. Erste Herausforderung: Dieser Aktionsmarker erreicht schnell Felder, bei denen du Energie abgegeben musst. Hast du keine mehr, darfst du keine Aktionen mehr ausführen. Autsch! Energie brauchst du eben auch für die Raumschiffe und zum Bauen diverser andere wichtiger Dinge und du bekommst sie zunächst nur über die Engine des alten Planeten, die du ja eigentlich abreißen willst. Mehrfache Zwickmühle!

Zweite Herausforderung: Jede ausgeführte Aktion hat einen gewissen Wert. Dabei haben mächtige Aktionen einen niedrigen Wert, schwache Aktionen, einen hohen. Dieser Wert bestimmt am Ende der Runde deine Reichweite auf dem Technologiepfad. Je weiter du dort vorankommst, desto bessere Biome kannst du auf dem neuen Planeten bebauen. Außerdem bieten die Leisten weitere Vorteile, die ich hier unter den Planeten fallen lasse. Wichtig zu verstehen ist nur, dass du oft weit laufen willst, dies sich aber mit der Aktionsauswahl beißt. Dritte Herausforderung: Jede Runde liegt eine Bonuskarte aus, die dir mächtige Vorteile schenkt, wenn du mit deinen Aktionswerten gewisse Schwellen erreichst.  Was macht das für ein Spaß, seine Aktionen in Evacuation zu verplanen und zu optimieren. Absolut irre motivierend!

Aktionen, Ressourcen, Aktionsleiste und asymmetrische Fähigkeiten.

Die Krönung

Evacuation bietet dabei verschiedene Komplexitätsstufen an. Im obigen Modus sind die Karten nur durch ihre neutrale Rückseite Platzhalter. Die Alternative, du schenkst auch der Vorderseite Aufmerksamkeit. Hier siehst Du ähnlich wie auf deinem Tableau Aktionsmöglichkeiten, die aber andere Angebote bereithalten und so noch ganz andere Synergien ermöglichen. Du hast dann die Wahl, die gezogenen Karten per Rückseite herkömmlich nur als Platzhalter für eine Tableau-Aktion zu benutzen oder aber ihre Vorderseite für Spezialmanöver. Das macht die Aktionsmechanik durchaus komplexer, grüblerischer, aber auch ungemein flexibel.

Spielreizupgrade: Aktionskarten!

Mehr Weltraumfleisch

Expertenspiel heißt, wir sind noch nicht am Ende. Unsere Köpfe am Tisch dampften, weil eben noch eine Forschungsmechanik mit asymmetrischen Spezialfähigkeiten genauso wie eine Puzzlemechanik die Synapsen befeuerten. Bei Letzterem kauft man sich Infrastruktur-Karten, die ein Raster vorgeben, wie man seine neue Engine auf dem neuen Planeten aufbauen muss. Weitere Schweißperlen auf der Stirn erscheinen, weil drei am Spielanfang gedraftete Endzielbedingungen pro Person noch einmal richtig fett Siegpunkte einbringen. Spielsieg ohne die Erfüllung dieser Aufträge? Keine Chance! Ich weiß gar nicht, wie oft meine Frau mir beim Spielen erzählte, wie ultraschwer sie dieses Spiel findet. Halbe Zustimmung. Es ist halt geil verzwickt, aber ja, schon ne verdammt kopflastige Sache. Also Jubelarien und Underwater Cities in die Tonne gekloppt?

Der Knick

Trotzdem habe ich am Ende mit Evacuation ein kleineres Problem. Ich würde fast sagen ein merkwürdiges. Die Aktionsmechanik komplex, fordernd und mit einer netten Breite an Möglichkeiten, dazu wechselnde Endsiegbedingungen, modulare Rundenbonuskarten, asymmetrische Fähigkeiten und je nach Spielmodus steigt auch noch einmal der Anspruch und auch leichte Interaktion ist vorhanden. Das klingt fett. Am Ende läuft es bei Evacuation aber immer auf dasselbe Ziel hinaus: Abreißen und Aufbauen. Das ist das Thema. Passt ja eigentlich. Irgendwie nichts falsch gemacht. Auch in anderen komplexen Eurogames ist das Ziel meiner Engine, der Siegpunkteausbeute oder die Tableauentwicklung gleich, aber trotzdem fühlt sich Evacuation am Ende ein Stück weit zu gleichförmig an. Nicht einmal bei der Aktionsplanung, aber mit dem, wohin ich möchte. Abreißen und Aufbauen eben. Am Ende lande ich trotz unterschiedlicher Fähigkeiten und gewählten Aktionen mit etwas Erfahrung bei einem mehr oder weniger komplett abgerissenen Planeten, einer schick aufgebauten neuen Engine und zähle dabei meine Endsiegbedingungen. Fertig.

Die Raumschiffe sind sehr unterschiedlich in ihren Möglichkeiten.

Fazit

Evacuation besitzt ein Thema, welches nicht nur mechanisch passend umgesetzt ist, sondern auch mit Innovation glänzt. Der Kniff, zu Spielbeginn eine fertige Engine zu besitzen, diese abzureißen, um sie auf einem neuen Planten nach seinen Vorstellungen wieder aufzubauen, ist genial. Getragen wird dies dann auch noch von einer grandiosen Aktionssymbiose. Gleich drei Herausforderungen bzw. Zwickmühlen sind bei der Optimierung der Aktionen ineinander verwoben. Der Spielreiz ist enorm und wird durch weitere Module noch ein gutes Stück gesteigert. Der Standardmodus ist aus meiner Sicht nur einmalig für den Einstieg interessant. Klingt nach einem echten Hochkaräter. Nach einigen Partien stellt sich dann aber eine Merkwürdigkeit ein. Das Spielziel, thematisch passend angelegt, ist zu begrenzt, die Endsiegbedingungen zu schmal, um langfristig mit den ganz großen Vertretern der Expertenspiele mitzuhalten. Das macht Evacuation zu keinem schlechten Spiel. Mit etwas mehr Breite am Spielende hätte es nur ein exzellentes sein können.

Evacuation

69.99 €
8.1

AUSSTATTUNG

8.0/10

SPIELIDEE

8.9/10

SPIELSPASS

7.5/10

Kurzfakten

  • Frisches Thema
  • Grandiose Aktionsmechanik
  • Doppelte Engine mega frisch
  • Nette Asymmetrie
  • Verschiedene Spielmodi
  • Spielreiz sinkt mit der Zeit

Spielinformationen

  • Genre: Strategiespiel
  • Personen: 1 - 4
  • Alter: ab 12 Jahren
  • Dauer: 60 - 150 Minuten
  • Autor: Vladimír Suchý
  • Rezensionsexemplar erhalten
Redakteur | Admin | Gründer von Brett & Pad | Website | + Letzte Artikel

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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Ich habe deinen Artikel heute Nacht um halb eins gelesen. Ich schleiche um Evacuation schon die ganze Zeit herum. Ich liebe Underwater Cities und Evacuation sprühte eine so magische Wirkung aus. Und jetzt? Jetzt lese ich deine drei Herausforderungen und bin maximal gespannt. Ich freue mich auf das Spiel und bin sehr gespannt, ob das Ende sich für mich auch so anfühlt.

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