Kurzcheck: Darum geht es in Axon Protocol
Zeit, die Arbeit zu beginnen und die Stadt im Namen meiner internationalen Mega-Corporation MEDIA NET auszuquetschen. Mein Geld verdiene ich mit Gewalt und Skandalen, die perfekt geölte Propagandamaschine. Wenn die Massen hysterisch werden, die Gewalt aufgrund von Gerüchten eskaliert und die Straßen brennen, dann knallen die Champagnerkorken. Und glaubt mir, das ist ein echter Tropfen und kein Synth-Schmutz aus den dreckigen Gossen des Sprawls. Wie mir das gelingt? Nun, die Bürger von Night … äh Nexon City sind alle verchipt. Dein Chip als SIN, Kreditkarte, Telefon und was weiß ich in deinem Kopf ist für mich als Hacker die perfekte Fernsteuerung. Du denkst, du hast einen freien Willen? Mit der gleichen Tastatur, mit der ich gerade diese Zeilen schreibe, lasse ich dich Brettspiele Konsumgüter kaufen und Gerüchte verbreiten. Ich bin ein Hacker und du gehört mir! Zugegeben, da gibt es ein Problem, die anderen Hacker, ergo Mega-Corporations haben andere Ziele. Drogen, Informationen oder vielleicht Cyberware. Und das Hacken ist aufwendig, muss zielgenau erfolgen. Also kein einfach verdienter Champagner und so eine Stadt geht zudem schneller zugrunde als einem lieb ist – und diese Bewohner:innen sind so verdammt fragil.
Gutes Grundgerüst
Halten wir den Absatz zur Mechanik kurz, denn Axon Protocol ist ein atmosphärisches Spiel und der dubiose Hacker aus dem letzten Absatz will sicher noch seine emotionalen Storys erzählen. Axon Protocol basiert auf Sharing-Workerplacment. Jeder Worker in der Stadt kann von jeder Person am Tisch aktiviert werden. Pro Runde allerdings nur einmal. Benutze ich den Taxifahrer, kannst du ihn nicht mehr aktivieren. Eine Runde dauert so lange, bis alle Worker benutzt wurden. Das alleine ist interaktiv, kennt man aber beispielsweise aus Red Outpost. Mit den Workern versuchst du durch ihre innewohnenden Fähigkeiten und/oder durch Orte, an denen sie stehen, Aktionen auszuführen, die bestenfalls die Ressourcen deiner Corporation erzeugen. Jede Ressource bringt eben einen Siegpunkt ein. Das Spiel endet, wenn eine gewisse Grenze an erschaffenen Gesamtressourcen erreicht ist und die Stadt damit zugrunde gegangen ist. Dazu gesellt sich noch eine schlanke Kartenmechanik. Für gewisse Aktionen wie z.B. das Hacken der Worker musst du Karten von deiner Hand abwerfen. Du kannst aber auch Karten für ihren Effekt spielen. Spezialfähigkeiten, Karten, die Aktionen anderer Mitspielenden einschränken, Konter gegen solche Karten, die Möglichkeiten sind vielfältig und oft von direkter Interaktion geprägt.
Unfassbar innovativ
Der unfassbare Clou sind aber die Worker an sich! Jeder Worker ist dabei ein individueller Charakter mit einer eigenen kleinen Persönlichkeit und damit Routine. Aktiviert man einen dieser Bewohner:innen aus Nexus City, dann führt er anhand seiner Routine und Standort das aus, was er eben so kann. Ein Rockstar pilgert zum Liberty Plaza. Er will dort eben ein Konzert geben. Ist er dort angekommen, würde er ein Konzert veranstalten und Worker von angrenzenden Orten zu ihm strömen. Ein Killer versucht zum nächsten Worker zu gehen und ihn zu töten, was ein Verbrechen an dem Ort auslöst. Eine Polizeiermittlerin verhaftet Verbrecher:innen am Ort. Keiner da, aber am Ort wurde ein Verbrechen gegangen? Dann ermittelt sie. Auch nicht der Fall? Dann fährt sie zum nächsten Tatort oder Kriminellen. Die Routinen besitzen oft mehrere Vorgaben, die die Charaktere so realistisch handeln lässt. Ein Wachmann patrouilliert beispielsweise im Geschäftsviertel. Ist er dort nicht, macht er sich auf den Weg. Ist er vor Ort, verhindert er Verbrechen. Taxifahrer fahren Orte ab und können Charaktere mitnehmen. Es gibt FUCKING 44 verschiedene Charaktere, die ins Spiel kommen können! Man verzeihe mir diesen unflätigen Ausbruch, aber es ist so grenzgenial und ultraerfrischend, wie die Stadt durch ihre Bewohner:innen auf ganz logische Art erwacht und alles miteinander verzahnt ist. Es ist die erste echte Meeple-City und ich bin mittendrin!
Hacken und Tabletalk
Neben den Routinen der Bewohner:innen gibt es als alternative Aktion die Möglichkeit, diese zu hacken. Auch hier hat jeder Worker verschiedene Fähigkeiten, die absolut thematisch angelegt sind. Hackt man sich nun ein, kann man den Worker abseits von seiner Routine, aber innerhalb seiner Fähigkeiten zu bestimmten Aktionen zwingen. Die Prostituierte wird sicher keinen Mord begehen, aber fiese Gerüchte verbreiten? Ihr Ding! Der schon bekannte Wachmann patrouilliert eigentlich nur, aber wir können ihn zwingen, Worker, die ein Verbrechen begangen haben, zu töten oder zu verhaften.
Der schon erwähnte Taxifahrer fährt eigentlich nur Charaktere herum. Ich hackte ihn und was will MEDIA NET? Skandale! Als Dauerquassler in seinem Auto verbreitet er also die fiesesten Storys unter seinen Fahrgästen. Markus als Hacker der ASURA Foundation, auch auf Skandale und Daten spezialisiert, profitierte ebenfalls davon. Auch er hackte den guten Taxifahrer und die Gerüchtemaschine lief geschmeidig. Im Laufe des Spiels wurde der Taxifahrer aber von zwei anderen Corporations vereinnahmt und plötzlich nahm er in seinem Taxi auch noch Drogen. Da ich als MEDIA NET nicht nur über Skandale punkte und für die ASURA Foundation nicht ständig Punkte sammeln wollte, beging der Taxifahrer plötzlich auch noch einen Mord. Meine zweite Leidenschaft. Der Taxifahrer, plötzlich ein skandalöser, drogensüchtiger Killer! Mord bedeutet übrigens, dass ein anderer Charakter am Ort des Taxifahrers aus dem Spiel entfernt wird. Er ist weg. Mit all seinen erspielten Punkten. Und da wären wir beim letzten Punkt.
Interaktiv!
Die Beeinflussung des Taxifahrers war aufgrund von geteilten Interessen erst ein Gemeinschaftsprojekt. Als ich ihn aber zum Mörder machte und er die Netz-Influencerin killte, die übrigens als Routine bestimmt, was andere Charaktere kaufen und ich somit der Corporation New World Products richtig fies in die Parade fuhr, sorgte diese dafür, dass der Taxifahrer am Flughafen die Stadt verließ. Arrivederci! Futsch waren die Punkte für Drogen, Gewalt und meine praktische Engine zur Ausbreitung von Skandalen. Ich biss in die Tischkante. Axon Protocol beherrscht es, stetige Spannung durch Unsicherheit zu zelebrieren. Oder Frust. Deine Gefühle, deine Entscheidung.
Welche Worker kannst du noch aktivieren, wenn du dran bist? Was machen die anderen? Zu welchen Orten können Worker reisen, um die oft mächtigen Ortskationen auszulösen? Was hast du für Karten auf der Hand, um Aktionen anderer umzuleiten oder schon benutzte Worker diese Runde doch zu benutzen? Viele Wege, die oft auch eine Zusammenarbeit benötigen. Eigentlich kein Problem, denn häufig überschneidet sich Corporations mit einem Ressourcentyp. Nur musst du dich auch absetzen! Allianzen gibt es somit keine, sondern nur situative Zweckbündnisse, die jederzeit zerbrechen können, so wie diese Stadt und ihre Bewohner:innen.
Aber, Obacht!
So genial Axon Protocol ist und so sehr ich den Mut zu diesem Spiel schätze, gebären sich aus der Spielmechanik auch ein paar Konsequenzen, die nicht jeder Spielgruppe gefallen könnten. Das Nachhalten der Ressourcen ist manchmal schwieriger und mit Verwaltungsaufwand verbunden, gerade wenn Kombo-Effekte entstehen. Dies geschieht immer dann, wenn eine gewisse Menge von einer Ressource produziert wird und dies weitere Ausschüttungen von anderen Ressourcenarten zur Folge hat. Hier braucht es Übersicht und eine Person, die sich um die Verwaltung der Leisten kümmert, auf denen diese Ausschüttung der Extra-Ressourcen vermerkt sind. Nicht zu unterschätzen ist auch der Einstieg. Zwar verlassen Worker die Stadt oder sterben, aber man holt auch über Aktionen immer wieder neue dazu. All die Routinen, Orte und Fähigkeiten im Kopf zu behalten, anfänglich keine leichte Aufgabe.
Schwerer wiegt vielleicht der Frust, wenn man Axon Protocol zu ernsthaft anpackt. Man braucht ein ähnliches Mindset wie bei Nemesis. Du kannst hier in Führung liegen und dann bricht dir alles auseinander, weil deine unterstützten Charaktere die Stadt verlassen, sterben oder sonst wie ihre erarbeiteten Ressourcen verlieren. Je mehr Personen am Tisch, desto stärker der Effekt. Das geschieht vor allem durch die Zusammenarbeit anderer, weil dich in manchen Momenten einfach alle stürzen sehen wollen. Ja, Axon Protocol kann gemein sein, dafür ist es aber auch unfassbar atmosphärisch, erzählt Geschichten am laufenden Band und hat eine ungeheure Dynamik. Ich habe jeden Siegpunkteverlust mit einer thematisch passenden Aktion verknüpft, wobei all diese Aktionen am Ende eine Geschichte erzählen, wegen der ich am Tisch sitze.
Fazit
Axon Protocol ist eine fiese analoge Cyberpunk-Meeple-City, in denen durch die Gassen ununterbrochen Table-Talk wabert und in deren schimmernden Neon-Fassaden sich die Unplanbarkeit bricht. Nexus-City ist kein Ort für strategische Planungsspiele. Hier herrscht der verzweifelte Versuch, aus dem Chaos des Alltags der Bewohner:innen Kapital zu schlagen. Zweckbündnisse am Tisch sind ebenso Pflicht, wie die Liebe zur Dramatik. Power-Aktionen, deren Konter und lustige wie einprägsame Situationen aus dem irren Zusammenspiel der dynamischen Worker werden garniert von stets spannenden Entscheidungen und Verrat. Du hast oft so viele Optionen, dass es ein wahres Fest ist. Allerdings erkauft durch Unübersichtlich in Erstpartien. Zutaten, die sicher nicht jeder Person liegen und die Fallhöhe kann zudem durch destruktive Interaktion in Axon Protocol extrem hoch sein. Ich falle hier aber gerne, denn ich kenne kein anderes Brettspiel, welches so eine thematisch dichte und unfassbar interaktive Workermechanik anbietet. Ich fühle hier jeden einzelnen Charakter und Ort, auch weil die Liebe zum Cyberpunk in jeder Faser des Spiels zu spüren ist. Da die Spielzeit auch alles andere als ausufernd ist, hat sich Axon Protocol mit seiner charmanten und mutigen Zusammensetzung absolut ins Herz gespielt.
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9 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Genau dafür liebe ich diesen Blog hier. Bisher ist das Spiel an mir vorbeigegangen, aber jetzt habe ich es auf dem Schirm. Es liest sich einfach unfassbar thematisch. Das möchte ich gerne mal auf den Tisch bringen. Keine Ahnung wie hoch der Wiederspielwert ist. Da bin ich bei solchen thematischen Spielen meistens etwas skeptisch, aber egal. Mindestens einmal muss das auf den Tisch. 🙂
Hallo Gordon,
also ich kann dir sagen, dass du in der Erstpartie nur einen Bruchteil der verschiedenen Worker sehen wirst UND im Zusammenspiel noch viel weniger.
Wichtiger ist wirklich die Spielgruppe und deren Mindset.
Liebe Grüße
Christian
Klingt schon echt genial, danke fürs Teilen! Auch der Preis ist ink Versand echt fair. Jetzt muss ich nur noch meine Frau hacken, damit sie Platz im Regal freiräumt…
Vielen Dank für das großartige und ausführliche Review!
Es hat uns sehr gefreut, dass es dir derart gut gefallen hat. Das nimmt ein wenig die Aufregung Ende Januar dann die fertigen Spiele auszuliefern 🙂
Hallo Peter,
hahaha, stilecht als Taxifahrer!
Liebe Grüße
Christian
Hallo Christian, eine sehr schöne Kritik, die mehr Lust auf das Spiel macht. Aber wie ist denn Deine Einschätzung für 2 Spieler?
Kann man machen, wenn man mal Spaß daran hat, so eine Cyberpunk-City mit Meeplen zu bevölkern und in die Mechanik eintauchen möchte. Ehrlicherweise ist aber natürlich der Spaß mit mehr Personen höher, alleine wegen der Diskussionen, der Allianzen usw. So schwer es mir auch fällt, aber fern von berechtigter Neugierde, würde ich es nicht als Must-Have bezeichnen, wenn man es nur zu zweit spielt.
Bin immer wieder ungern auf Eurer Seite: Eure Toplisten waren mehr oder weniger mein Einstieg ins Hobby und wurden von mir teilweise als Einkaufszettel aufgefasst (mein Konto freut es nicht, mich umso mehr). Und dann tauchen hier ab und zu so überspezielle Sahnestücke auf, von denen man sonst nie (oder sehr spät) etwas mitbekommen hätte (Tsukuyumi bspw. ist jetzt ja auch nicht super prominent, euer Special aber der Hammer!). Musste hier sofort reinshoppen: Cyberpunk ist schon no-brainer, aber die Review lässt mich schon vor Vorfreude sabbern, kann es kaum erwarten!
Hallo Tobias,
Frohe Weihnachten! Schön, dass wir dir mit unseren Artikeln eine Freunde bereiten und wir so oft deinen Nerv treffen. Ich persönlich habe öfters Mal die Sorge, weil der eigene subjektive, hier vorgestellte Geschmack ja nicht jeder Person am Ende auch gefallen muss. Aber was soll man machen, was ich abfeiere, das feiere ich halt ab. Und wenn es andere Menschen gibt, die einen ähnlichen Geschmack teilen, dann freut mich das natürlich.
Ich werde versuchen, mal die Top 10 umzubauen. Vielleicht in eine Top Tier Ranking con S bis C oder so. Es sind mittlerweile durch verschiedene Kategorien zu viele Titel und zu wenige in den Top 10.
Liebe Grüße
Christian