Lesezeit: 5 Minuten
Freunde von Terra Mystica müssen bei meiner Besprechung zu Terra Nova tapfer sein. Ich starte direkt mit der Eskalation. Meine steile These, ihr könnt den aufgeplusterten Expertentitel Terra Mystica in die Tonne kloppen. Ja, richtig gelesen! Ich rede von dem Spiel, welches auf BoardGameGeek auf Platz 23 thront und weltweit gefeiert wird. Meine These mag vielleicht exklusiver sein und ist durch einen Argumentations-Joker zumindest leichter erkauft, trotzdem stehe ich zu der Aussage. Lasst es mich erklären!

Kurzcheck: Darum geht es in Terra Nova

Terra Nova sieht auf den ersten Blick genauso wie der große Bruder aus. Oder ist es eine Schwester? Egal. Wichtig ist, wer Terra Mystica kennt, der findet sich hier sofort zurecht. Auch in Terra Nova bekommen Mitspielende eine Fraktion mit individuellen Fähigkeiten, die z. T. über Gebäude freigeschaltet werden. Weiter besitzt das Spielfeld viele Hexfelder unterschiedlicher Biome, wovon jede Fraktion nur eine Art besiedelt kann. Als Seebär lebt es sich eben schlecht in der Wüste. Also gibt es auch in Terra Nova die Möglichkeit, diese Hexfelder unter großer Mühe zu terraformen und anderen damit Bebauungsfelder durch eigene Besiedelung zu klauen.

Der Clou mit der Nachbarschaft, also das Gebäude angrenzend zu Gegenspieler:innen günstiger zu bauen sind, diese dafür aber die Ressource Macht erhalten, ist ebenfalls enthalten. Mit Macht lassen sich in Terra Nova gleichfalls wirklich starke Aktionen auslösen, zudem bedeutet Nachbarschaft logischweise stärkere Behinderung bei der Ausbreitung. Es ist ein spannendes, zweischneidiges Schwert. Die knifflige Wahl beim Passen für Bonusplättchen hat es wie die modularen Siegpunkte-Plättchen, die pro Spielrunde eine bestimmte Aktion besonders belohnen, auch in die Schachtel geschafft. Wir haben also auch in Terra Nova ein interaktives Eurogame mit klassischen Ressourcenmangement, den Ausbau seines Volkes über Gebäude, Gerangel um Bauplätze und strategisches Auslösen von den richtigen Aktionen pro Runde für Siegpunkte. Was ist da jetzt der Unterschied zu Terra Mystica? Entscheidend ist der zweite Blick!

Die Seebären sind auf Kurs!

Der zweite Blick

Terra Nova ist trotzdem anders und beeindruckt auf seine ganz eigene Art. Das Spiel wurde nämlich an vielen Stellen so geschrumpft, das aus einem Expertenspiel ein Familienspiel wurde, aber eben ohne das man es sofort merkt oder der grundlegende Charakter verloren geht. Aus meiner Sicht ist das hier Streamlining nah an der Perfektion, wenn man es aus der Sicht des erhaltenen spielerischen Charmes betrachtet. Als Ressource muss man sich nur noch auf Gold und Macht konzentrieren. Die Arbeiter fallen weg. Das macht das Planen der Gebäude weniger verzwickt. Die Fokussierung fällt leichter. Auch der Machtkreislauf ist nun geschlossen und mit weniger Entscheidungen gespickt. Ein Verbrennen der Macht für einen kurzfristigen Boost ist nämlich nicht mehr möglich. Es gibt auch weniger Biome, was die Ausbreitung vereinfacht, weil das Terraformen so insgesamt günstiger ist.

Die ganze Kultmechanik wurde auch eingedampft. Das sorgt dafür, dass es weniger Arten von Gebäuden gibt und der Kampf um Kultleisten wegfällt. Das schmälert definitiv die Komplexität, ich empfand das spielerische Element der Kulte allerdings schon immer als thematischen Fremdkörper. Also weg damit! Auch andere Dinge, wie die Boni bei Stadtgründung oder die modularen Plättchen für Siegpunkteausschüttung pro Runde, wurden angepasst.

Modulare Wertungen pro Runde. Weitere sind aussortiert in der Spielschachtel.

Die große Veränderung

Natürlich ist Terra Nova wegen all dieser Änderungen nur ein Schatten seiner ursprünglichen Komplexität. Allerdings können erfahrene Personen zu zweit Terra Nova in 30 Minuten spielen. Das ist Absacker-Style! Und auch mit mehr Personen wird das hier immer eine schnelle Nummer bleiben. Aus eigener Erfahrung weiß ich auch, wie hart Terra Mystica sein kann. In meinen Partien massierte der Frust öfters den Nacken. Erstpieler:innen haben so gut wie gar keine Chance. Terra Mystica platziert sich teilweise zwischen mathematischen Rechenspielen und brutaler Interaktion. Das ist in dieser Familienauflage natürlich anders gelagert. Hier kann jeder mitspielen und trotzdem den Charme des originalen Spielprinzips fühlen. Aufgrund der kompakten Spielzeit kommt dieses Spiel auch gerne und oft auf den Tisch. Und wer wirklich mal Lust auf Komplexität hat – jetzt kommt mein Joker – der greift zu Gaia Project. Das ist um einiges thematischer, hat statt aufgesetzten Kulten hochinteressante Technologie und ist trotz der noch einmal erhöhten Komplexität weniger frustrierend, weil es einfach mehr spielerische Freiheiten bietet. Sorry, aber Terra Mystica wurde abgeschafft!

Weniger Biome, gleich weniger Schaufel, gleich weniger Kosten um Gebiete umzuwandeln.

Zwischen den Stühlen?

Die aus meiner Sicht gelungene Reduzierung hat beim Abfräsen allerdings ein paar rauere Kanten stehen lassen. Je nach eigener Erwartungshaltung und Einsatzzweck mehr oder weniger stark. Als Kenner der Expertenvorlage, der Terra Nova als schnelles Spiel abfeiert, hätte ich mir auch auf der A-Seite der Fraktionsbögen mehr Asymmetrie gewünscht. Hier ist nämlich eine freischaltbare Fähigkeit bei allen Fraktionen gleich. Ich nehme es selten in den Mund, aber ich hätte hier gerne mehr Abwechslung gehabt und lechze schon jetzt nach Erweiterungen.

Anders gelagert ist es für alle, die Terra Mystica nicht kennen und hier wirklich mit der Erwartung Familienspiel einsteigen. Für die mag die A-Seite genau richtig sein, die sollten sich aber bei der Kategorie trotzdem ein großes Plus denken. Terra Nova ist trotz der Reduzierung ein sehr strategisches Spiel, bei dem man durchaus seinen Aktionsmöglichkeiten gegen Siegpunkte um Kopf immer wieder ausrechnen sollte. Es ist kein komplett lockeres und fluffiges Spiel und besitzt im Kern eben einen gewissen Anspruch. Daher ist es allerdings auch perfekt geeignet, um eine weniger erfahrene Spielgruppe an schwergewichtigere Spiele heranzuführen!

10 verschiedene Völker bringen ordentlich Varianz.

Fazit

Ich bin durchaus über die Metamorphose von Terra Mystica zu Terra Nova beeindruckt. Aus einem wirklich anspruchsvollem Expertenspiel so ein elegantes Familienspiel zu schaffen und trotzdem die Essenz des Expertenspiels beizubehalten, ist einfach beeindruckend. Die strategische Ausbreitung des eigenen Volkes über die Welt, das Erleben von starker Asymmetrie, die interaktive Nachbarschaftsmechanik mit der Macht als Ressource, all die großartigen Elemente von Terra Mystica sind vorhanden. Gleichzeitig klatscht Terra Nova seinen großen Bruder in Sachen Spielzeit aber mit Vollgas an die Wand! Vermisse ich Terra Mystica? Ihr kennt die Antwort. Doch Obacht, die Kategorie Familienspiel täuscht, weil unter der kunterbunten Haube und trotz der Schrumpfkur in Sachen Komplexität durchaus ein verzahntes und mechanisches Spiel lauert. Flockig aus dem Bauch ist hier selbst mit tollen Spielhilfen nicht angesagt. Es sitzt damit etwas zwischen den Stühlen. Dafür ist es aber perfekt geeignet, unerfahrenere Spieler:innen charmant die Tür und damit die Neugierde auf komplexere Spiele zu öffnen.

Terra Nova
Spielinformationen
Genre: Strategiespiel | Personen: 2 - 4 | Alter: ab 12 Jahren | Dauer: 60 - 90 Minuten | Autor/in: Andreas Faul | Rezensionsexemplar erhalten
SPIELSPASS
8
AUSSTATTUNG
8.5
SPIELIDEE
8
Leserwertung0 Bewertungen
0
Positive Aspekte
Wertiges Material
Tolle Reduzierung eines Expertenspiels
Kompakte Spielzeit
Schöne Asymmetrie
Türröffnerspiel für komplexere Spiele
Spielinformationen
Für Expert:innen zu wenig Varianz ...
... daher Wiederspielreiz geringer
8
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7 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Das hört sich stark an, weil:
    Ich habe damals schon deinen Joker gezogen Christian. Weil du in deiner Rezension geschrieben hast, Gaia Projekt ist das bessere Terra Mystica. Und weißt du was? Du hast Recht. Gaia Projekt habe ich als Geschenk bekommen und jede Partie ist genial, gut, Modular, anders, thematisch, spannend, eng….eine echte Perle.
    Terra Mystica? Hat mich dann, als ich es im Nachgang spielte mit leichter Enttäuschung zurückgelassen und meine Erwartungen durch Gaia waren da wohl zu hoch.
    Gaia auf den Tisch zu bringen mit der Familie? Mit neuen Spielern? Nope. Doch jetzt kommt mit Terra Nova die schlankere Variante. Thematisch packt es meine Mitspieler mehr als Gaia und daher wird es wohl ins Regal wandern. Danke.

    Antworten
  • Hallo, ich musste mich damals entscheiden zwischen Terra Mystica und Gaia Project und hab mich für Gaia entschieden wegen Solomodus und natürlich SciFi. Mittlerweile gibt es zwar einen Solo für Terra Mystica aber es interessiert mich irgendwie nicht so wirklich. Dein Bericht erinnert mich daran, Gaia über Weihnachten wieder mal auf den Tisch zu bringen. Danke und ich wünsche dir und Markus frohe Weihnachten.

    Antworten
    • Ja, Gaia hatte in Sachen Personenanzahl beim Erscheinen wirklich hart die Nase vorn. Auch das Spiel zu zweit war wesentlich besser als bei Terra Mystica. Ich kenne einige sehr begeisterte Solospieler:innen die Gaia echt abfeiern. Eines der Spiele, welches bei uns wirklich zu wenig auf den Tisch kommt. Ich wünsche dir auch frohe Weihnachten 🙂

      Antworten
  • Hallo Christian,

    schöne Rezension und gewagte These! 🙂
    Ich hatte Terra Mystica Ende letzten Jahres zum ersten Mal gespielt und es war einer meiner ersten Experten-Spiele (ich bin ja noch nicht so lange in diesem Hobby… ;-)). Ich war damals ziemlich begeistert, insbesondere von den assymetrischen Fraktionen und den schön verzahnten Mechanismen. Nachdem ich in der Zwischenzeit noch einige andere Expertenspiele gespielt habe, würde ich im nachhinein sagen, dass Terra Mystica zwar nicht mehr das modernste Spiel ist, aber durchaus auch heute noch seine Daseinsberechtigung hat. Dass man in dem Spiel einerseits um die besten Plätze kämpft und anderseits aber auch von den Nachbarschaften profitiert, ist auch heute noch besonders.

    Als ich zum ersten Mal von Terra Nova gehört habe, habe ich mich daher gefragt, ob es ein solches Spiel (Terra Mystica mit heruntergefahrenen Mechaniken) wirklich braucht. Deine These, wonach Terra Mystica neben Gaia Project und Terra Nova quasi überflüssig geworden ist, geht ja genau in die andere Richtung… 🙂 Ich kann es nicht wirklich beurteilen, da ich von den drei Spielen nur eines gespielt habe…

    Was mich noch interessieren würde: Kann man Terra Nova auch gut zu zweit spielen? Terra Mystica ist ja eher nicht so gut für 2 Personen geignet, ist das bei Terra Nova jetzt anders?

    Noch kurz zum Thema Terra Nova = Familienspiel: Nach deiner Beschreibung hört sich Terra Nova für mich eher wie ein Kennerspiel an. Ich glaube, dass man bei der Kategorie „Familienspiel“ auch die „etwas ältere Generation“ berücksichtigen sollte, die nur gelegentlich spielt und bei einem Spiel mit assymetrischen Fraktionen, Area Control und einer Vielzahl von freischaltbaren Elementen und Verzahnungen möglicherweise etwas überfordert sein könnte… 😉

    Ich wünsche dir und Markus frohe Weihnachten und erholsame Feiertage mit euren Familien!

    Viele Grüße
    Florian

    Antworten
    • Es läuft bei KOSMOS als Familienspiel, entsprechend habe ich das auch so eingeordnet. Und anders als Terra Mystica kann man Terra Nova auch mit einer spielerfahrenen Familie spielen. Das angegebene Alter sollte aber schon hellhörig machen. Ich habe diesen Umstand deswegen auch thematisiert. Es sitzt zwischen den Stühlen. Für ein modernes Kennerspiel würde ich die Spielerfahrung als zu gradlinig erachten. Und obwohl die eingedampften Regeln sehr schnell und gut zu verstehen sind, ist es weniger Bauchspiel. Ich würde es aber nicht als klassiches Kennerspiel betiteln. Wie gesagt, schwierig.

      Aus meiner Sicht kann man Terra Nova besser zu zweit spielen. Es gibt auch eine zweite Spielseite des Spielbretts. Man hat dabei aber „neutrale“ Fraktionen mit im Spiel. Muss jeder selber wissen, ob er sowas mag. Grundsätzlich, wenn man kein Problem mit Anspruch hat, würde ich für zwei Personen Gaia empfehlen. Das geht super zu zweit.

      Antworten
  • Christopher Kiselmann
    23. Dezember 2022 23:15

    Schöner Artikel. Habe das Spiel auf der Spiel 22 mit einem Kumpel gespielt und hatte genau das gleiche Gefühl wie du: dieses Spiel ist perfekt geeignet um Wenig- und Gelegenheitsspieler an komplexere Spiele heranzuführen – ohne zu frustrieren.
    Macht gerne weiter so, ich lese sowohl deine Artikel als auch die von Markus sehr gerne.
    Viele Grüße
    Chris

    Antworten

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