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Vampire: The Masquerade – Milan UprisingDittsche, wohl der Titan in Hamburg neben Uwe Seeler, würde das kooperative Vampire: The Masquerade – Milan Uprising lieben. Wer öfter hier liest, weiß, worauf ich hinauswill. Ich spreche von nichts Geringerem als dem legendären Sickerflopp. Der Ausflug nach Mailand war zunächst durchaus geprägt von Heißhunger, schließlich bin ich Fan des The Masquerade-Universum und Vampire gehen spätestens seit Blade und Underworld als stylishe Anti-Held:innen immer. Ein narratives, digitales Brettspielerlebnis mit dieser Thematik? Eigentlich ein Selbstläufer. Das Problem: Vampire: The Masquerade – Milan Uprising hat sich nicht die Zähne geputzt. Das geht anfänglich gut, aber irgendwann kommt die Zahnfäule. Hohlen wir den Bohrer raus und schauen uns das spielerische Gebiss genauer an.

Kurzcheck: Darum geht es in Vampire: The Masquerade – Milan Uprising

Vampire: The Masquerade – Milan Uprising muss mit mindestens vier Vampiren gespielt werden. Kein Problem, meine Frau und ich wählten je zwei. Durch den digitalen Ansatz ist der Verwaltungsaufwand gering. Schön: Alle zur Auswahl stehenden Vampire gehören verschiedenen Clans an, haben eine eigene Hintergrundstory und starten wie in einem Rollenspiel mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen. Wir übernehmen mit unseren Vampiren die Rollen der Anarchen-Vampire von Mailand, die gegen die Unterdrückung durch die herrschende Vampirsekte – die Camarilla – um Autonomie kämpfen, um letztendlich den tyrannischen Camarilla-Prinzen Prospero zu stürzen.

Mailand ist in Bezirke unterteilt, kontrolliert von Camarilla oder Inquisition. Ohne deren Übernahme – inklusive spielerischer Vorteile – haben wir keine Chance. Wir als Anarchen besitzen anfänglich nach dem interaktiven und gelungenen Tutorial, das die Grundabläufe verständlich erklärt, nur einen einzigen Bezirk. Neben einer Hauptmission, die durch Events vorangetrieben wird, erzählen die Bezirke kleine, stimmungsvolle Geschichten, dazu gesellen sich persönliche Missionen für die gewählten Charaktere. Auch mit den verschiedenen Vampir-Fraktionen kann interagiert werden. So ziehen wir nacheinander unsere Vampire durch Mailand und erleben viele verschiedene, vertonte Ereignisse, die ganz wie in einem Rollenspiel einen vor Entscheidungen und entsprechenden Fähigkeitenchecks stellen. Doch wo ist denn jetzt die Zahnfäule?

Vampire: The Masquerade – Milan Uprising
Auch klassisches Brettspielmaterial wird geboten

Die Sucht nach mehr

Die lässt auf sich warten. Ehrlich, die erste Zeit war es keine Frage, ob wir am Abend noch ein Brettspiel spielen, sondern nur wie lange Vampire: The Masquerade – Milan Uprising. Das Teburu-System zeigt hier seine Stärken. Selbst an stressigen Tagen, wo ich narrative und üppige Brettspiele eher nicht auspacke, erhob sich Mailand innerhalb weniger Minuten am Tisch. Dazu konnten wir zu jeder Zeit abspeichern. Total flexibel! Heavy-Kampagnenspiel gefühlt als Fast Food. So spielten wir wirklich jeden Tag ganz unkompliziert, wenn auch manchmal nur eine Stunde. Dies ist und bleibt eine große Stärke des Spiels. Auch spielerisch waren wir motiviert.

Atmosphärisch und schick ist es durchaus

Motiviert bis in die Zahnspitzen

Wir eroberten erste Bezirke durch das Abschließen entsprechender Missionen, erhielten dadurch neue Aktionsmöglichkeiten, weil jeder Bezirk eine versteckte „Fähigkeit“ besitzt. Wir sammelten Erfahrungspunkte und sprachen uns beim umfangreichen Verbessern der Vampire ab. Die Vertonung passte, die Entscheidungen deckten viel ab: Überredung, Ermittlung, Rituale, brutale Gewalt, wenn Köpfe flogen – definitiv nichts für Kinder. Meine Frau mit ihrer mordlüsternen Vampirin, hochgezüchtet in Kampf und Körper-Attribut, saugte liebend gerne besiegte Gegner aus oder ließ sie bewusst sterben, weil sie es konnte. Muss ich mir Sorgen machen?

Dazu erfordert das Spiel Absprache. Die Bezirke sind z.B. in verschiedene Kategorien eingeteilt und eine Planung über das gemeinsame Vorgehen anhand der Fähigkeiten seiner Vampire ist unabdingbar. Dazu halten einen die feindlichen Einflusswürfel in fremden Bezirken auf, weil sie womöglich eine feindliche Begegnung auslösen und damit selbst bei erfolgreicher Lösung dieser Herausforderung der Zug endet. Die Bewegungen unserer Vampire war eine intensive kooperative Planung. Dazu gesellten sich weitere Bausteine. Zu findende Verbündete, Kontakte mit anderen Clans, der Ausbau der Heimstätte für Boni am Ende des Tages und das Sammeln von Ressourcen. Langweilig wird es einem nicht und es ist sogar ein Stück knifflig. Die Hauptmissionen erfordern z.B. gewisse Meilensteine. Als Gruppe hat man in einer Nacht allerdings nur drei Aktionsrunden, bevor der Tag anbricht und eine neue Runde beginnt. Hier verändern sich dann Bezirksmehrheiten, persönliche Missionen werden abgebrochen und neue gestartet. Es ist also immer eine Frage der Prioritäten. Diese gemeinsam zu sortieren, macht durchaus Spaß.

Vampire: The Masquerade – Milan Uprising
Der Kampf um die Bezirke macht anfänglich Spaß!

Die Proben

Das simple Probensystem überzeugt: Drei Attribute, ergänzt durch passende Fähigkeiten wie Überreden oder Kampf. Das Hauptattribut gibt die Anzahl der Würfel vor, die Fähigkeiten zusätzliche Erfolge. Das Spiel gibt folgend einen Mindestwert an Erfolgen für die Probe je nach Schwierigkeitsgrad vor. Wird eine Probe verpatzt, erhöht dies den Verdacht, was uns Vampire langfristig die Maskerade fallen lässt. So kann das Spiel sogar verloren werden. Kurzfristig endet allerdings erst einmal nur die Begegnung bzw. der Zug des Charakters und ein späterer Versuch muss unternommen werden, die absolut gleiche Begegnung zu meistern. Und damit wären wir beim ersten kariösen Stellen angelangt!

Vampire: The Masquerade – Milan Uprising
Der Charakterbogen macht was her!

Es sickert …

Vampire: The Masquerade – Milan Uprising ist bis auf wenige Ausnahmen kein weitverzweigtes Abenteuer voller sich wechselseitig beeinflussender Ereignisse und Entscheidungen. Entweder geht es bei einem Misserfolg unspektakulär weiter oder es wird in der nächsten Aktionsphase noch einmal probiert. Es ist somit eher ein Spiel der Effizienz. Ein analoges Tainted Grail ist um ein Vielfaches dynamischer und lässt eigene Entscheidungen und damit Konsequenzen des eigenen Handels prägnanter spüren. Diese Konsequenzen der eigenen Handlung zu spüren, eine Welt zu erleben, die sich darum wickelt, das ist für mich allerdings der Besuchsgrund narrativer Brettspiele. Es dauert nicht lange und ich merkte, die Story fährt größtenteils auf Schienen, da würde die Deutsche Bahn neidisch werden. Eine herbe Enttäuschung, wenn bedacht wird, was die Blackbox, diese Digitalität des Teburu-Systems als Spielleiter, hier hätte leisten können.

Dazu gesellt sich dann eine ungesunde „spielerische Einschleifung“. Es dauert nur wenige Runden und wir erkannten ein Muster, welches Vampire: The Masquerade – Milan Uprising viel zu stringent durchzieht. Ich beabsichtigte, einen Bezirk einzunehmen. Nicht weil mich eine Story dort hinführte, das erlebte ich selten, sondern weil ich es konnte. Kein guter Motivationsgrund. Egal, damit muss gelebt werden. Im Bezirk angekommen, startete ich eine Aufruhr-Begegnung. Ja, das folgende Stimmungsbild auf dem Hauptgerät und die Vertonung lassen mich nun in eine Story eintauchen, aber zu oft losgelöst von einfach allem. Ich treffe fremde Figuren in beliebigen Konflikten – in sich stimmig, aber isoliert und austauschbar. In sich ist die Story schlüssig und gut, aber jeder Bezirk kocht sein autarkes Süppchen. Danach folgte stets eine Folgequest in einem angrenzenden Bezirk, die auch ein anderer Charakter weiterführen konnte, obwohl dieser bisher gar nicht involviert war. Individualität innerhalb der Story absolute Fehlanzeige. Nach dieser Folgequest geht es zurück in den Ausgangsbezirk, wo ein letzter Abschnitt der Story mit einer Gruppenherausforderung abgeschlossen wird. Einen Zusammenhang zwischen den Bezirken und Quests ist nicht existent. Vampire: The Masquerade – Milan Uprising ist somit größtenteils eine Aneinanderreihung von vielen kleinen Geschichten. Gut erzählt, aber belanglos und unpersönlich.

Vampire: The Masquerade – Milan Uprising
Ja, die Quests werden mit der Zeit mehr und breiter, es ist aber keine Stärke des Spiels darüber eine spannende und individuelle Geschichte zu erzählen.

… bis zur Zahnfäule!

Diese Grundstruktur ist ermüdend, wenig überraschend und langfristig vermag es keine Welt zum Leben erwecken. Öfter habe ich gelesen, Vampire: The Masquerade – Milan Uprising wäre eine Symbiose aus Pen & Paper und Brettspiel mit digitaler Leitung. Wer das behauptet, kann aus meiner Sicht nur wenig Erfahrung im Bereich Pen & Paper besitzen.

Aber auch spielerisch als kooperatives Brettspiel hat Mailand noch eine fiese Nuss für poröse Zähne im Petto. Nach einigen Nächten in Mailand teilte mir meine Frau begeistert mit, wie toll sie es findet, die Vampire unterschiedlich zu skillen. Kopfnicken meinerseits. Eine tolle Mischung aus erschaffender Individualität und der Freude, mit seiner Spezialisierung bei bestimmten Situationen besser helfen zu können. Mit steigender Spielzeit entpuppte sich dies aber mitunter als Nachteil. Das Spiel besitzt eine zufällige Zugreihenfolge, ganz anders als The Bad Karmas. Das Problem: Vielleicht muss in einer Nacht zuerst die Kampfsau berserken und danach das Kommunikationstalent überreden? Geht dann aber nicht. Der Gipfel war dann ein Strang der Hauptstory, auf den wir gespannt zusteuerten und wir in einer Kaskade von eigentlich coolen Ereignissen und Proben, dazu gezwungen wurden, dass unser „Mental-Vampir“ kämpfen musste und unsere Nahkampfexpertin ohne Hirn vor geistige Proben gestellt wurde. Einfach nur ätzend!

Erschwerend kommt hinzu, dass manche Mechaniken auch nach weit über ein dutzend Stunden Spielzeit nebulös bleiben, trotz digitalem Nachschlagewerk und erklärenden Texten in der App. Persönliche Ziele werden abgebrochen, obwohl sie geschafft wurden; Fähigkeiten von Verbündeten zicken herum und der gezielte Aufbau von Ruf bei den Fraktionen bleibt nebulös. Vampire: The Masquerade – Milan Uprising vergisst an zu vielen Stellen die Spielenden mit ihren mechanischen Fragen und zieht seine programmierte Einbahnstraße durch.

Am des Tages ziehen die Vampire sich für Boni in den „Bau“ zurück.

Fazit

Vampire: The Masquerade – Milan Uprising ist ein exzellenter Sickerflopp. Anfänglich blitzen die Vampirzähne, poliert durch fantastische Atmosphäre und einen tollen Einstieg im Hinblick auf Story und Charakterentwicklung. Auch so manche spielerische Ergänzungen motivieren innerhalb der ersten Nächte. Ich würde lügen, wenn ich dem Spiel um die Vampirnächte in Mailand den kompletten Spielspaß absprechen würde. Gerade anfänglich war die Sogkraft enorm, auch weil Teburu als System so mühelos im Bereich Spielaufbau und Abspeichern agiert. Je länger wir aber in Mailand verweilten, umso mehr stumpften diese schillernden Zähne ab. Die Story ist größtenteils in belanglosen und zerstückelten Einzelgeschichten gefangen, die erhoffte Individualität der Charaktere wird begraben und das kooperative Spiel teilweise durch frustrierende Vorgaben untergraben. Es ist leider nicht geglückt, die oft mit Verwaltungsaufwand geschwängerten analogen Narrationsbrettspiele in eine verbesserte und digitalisierte Form zu bringen. Von einem hybriden Pen & Paper-Erlebnis kann hier schon gar nicht gesprochen werden. Vampire: The Masquerade – Milan Uprising fehlt es an Konsequenzen, echten Entscheidungen, dem Willen, eine einzigartige Geschichte zu erzählen und ergibt sich dafür dem Railroading. Als stimmungsvolles Abtauchen ohne große Erwartungen nach Feierabend gerade noch zu gebrauchen, bleibt Vampire: The Masquerade – Milan Uprising letztendlich weit hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Vampire: The Masquerade – Milan Uprising Achtung Zahnfäule!
Spielinformationen
Genre: narratives Brettspiel | Personen: 1 - 4 | Alter: ab 18 | Dauer: 40 - 90 Minuten | Autor/in: Davide Garofalo, Riccardo Landi, Paolo Tajé | Illustration: Jarrod Castaing, Marco Fornaciari, Andrea Stanga | Rezensionsexemplar erhalten
SPIELSPASS
6
MATERIAL
8.5
SPIELIDEE
5.5
Positive Aspekte
Tolle Atmosphäre
Deutsche Vertonung
Verschiedene Charaktere und Spezialisierungen möglich
Interessante Mischung aus Area-Control, Würfelproben und Story
Großer Umfang
Anfänglich wirklich reizvoll
Unkompliziert spielbar durch das Teburu-System (Auf- und Abbau, Speichern)
Negative Aspekte
Bezirk-Quest-Mechanik mit immer gleichen Ablauf
Spielmechaniken bleiben stellenweise nicht nachvollziehbar durch die Black Box des Systems
Zugreihenfolge nicht bestimmbar, daher Frust möglich
Viel zu wenige Zusammenhänge zwischen den Geschichten innerhalb der Bezirke
Alle agieren eher als austauschbare Gruppe als das ein Gefühl der Individualität aufkommt
Nur wenige echte Konsequenzen, die für eine lebendige und nach den eigenen Handlungen gewachsene Welt/Story sorgen
6
Redakteur | Admin | Gründer von Brett & Pad | Website |  + Letzte Artikel

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