
Virtual Revolution 2046: Liebe und Verwirrung
Ich halte den Roman in den Händen und bin zunächst verliebt. Das Cover streichelt mit der Schnittverzierung meinen inneren Cyberpunk-Nerd. Ein wahnsinnig schickes Buch und ein Hardcover, welches jedes Buchregal besser macht. Die Vorfreude war noch einmal etwas höher gedreht. Also rein ins Vergnügen. Meine Augen frästen sich zügig durch die ersten Kapitel und mit jeder weiteren Seite wuchsen die Zweifel. Die Kapitel waren extrem kurz gehalten. Kurz meint hier teilweise zwei Seiten! Die Schrift eher groß und dazu trotzdem vom Layout noch viel Weißraum. Ich fand Fußnoten, die gewissen Erklärungen lieferten, mich aber weniger an einen Roman und mehr an eine wissenschaftliche Arbeit erinnerten. Die Satzlänge gefühlt immer ein Stück weit zu kurz, die Wortwahl speziell. Kurzum: Ich bin verdammt schwer reingekommen. Vom Inhalt – hey, es ist immer noch Cyberpunk – und dem Worldbuilding dieser dystopischen Vision war ich allerdings immer noch angetan.
Faszinierende Welt
Es ist mitunter faszinierend zu erleben, wie sich in Virtual Revolution 2046 ein Großteil der Menschheit aus dem realen Leben in virtuelle Welten zurückgezogen hat. Die Gesellschaft ist dadurch tiefgreifend verändert und in drei Gruppen gespalten. Die sogenannten Vernetzten sind völlig in der virtuellen Realität aufgegangen und zeigen deutliche Abhängigkeitssymptome, sind allerdings auch kalkulierte Sklaven des Systems, die sich dieser Masse an Menschen so einfach entledigen. Im Gegensatz dazu stehen die Lebendigen, die sich aus philosophischen, religiösen oder finanziellen Gründen bewusst gegen diese Technologie entscheiden und ihr Leben ausschließlich in der realen Welt führen. Zwischen diesen beiden Extremen existieren die Hybriden, die ihre Zeit sowohl in der analogen als auch in der virtuellen Realität verbringen. Dabei ist der sozioökonomische Blick von Guy-Roger Duvert auf solch eine Dystopie interessant, weil er ein gar nicht so unrealistisches Szenario und seinen möglichen Umgang damit aufzeigt. Die Darreichung irritierte mich allerdings maximal. Insbesondere die wirklich knappen Kapitel, die zwischen den drei Handlungssträngen sprangen, überzogen mich mit einer Mischung aus Ablehnung, Überforderung und Verwunderung.
Insta-Reel
Eben noch mit dem Hybriden und Ex-Polizisten und Privatdetektiv Nash Trenton in Neo-Paris unterwegs, verschlägt es mich innerhalb weniger Leseminuten nach New York, zur hochbegabten jungen Interpol-Agentin Genna, die den Reizen der virtuellen Welten konsequent widersteht oder nach Tokio, zur vernetzten Rei, deren beste Freundin aus dem gemeinsamen Appartement von Spezialeinheiten mit kybernetischen Prothesen brutal entführt wird. Ein Roman wie eine Aneinanderreihung von Insta-Reels. Ja, die Story des Hybriden, der Lebendigen und Vernetzten, diese drei miteinander verknüpften Schicksale in einer verfallenden Gesellschaft, machen theoretisch neugierig, aber ich gebe zu, Comic und Brettspiel im Regal hielten mich anfänglich mehr bei Laune als die Darbietung der Story im Roman. Und innerhalb dieser kurzen Kapitel, die immer nur wie Gucklöcher in ein eigentlich größeres Ganzes wirken, wird innerhalb der Erzählperspektive zwischen verschiedenen Charakteren munter getauscht. Diese auktoriale Erzählperspektive ist ja absolut legitim, ist bisweilen durch den Fokus auf gewisse Charaktere und das gefühlte Abrutschen in eine personale Erzählperspektive aber schwierig zu folgen.
Doch noch der Sog?
Kennt ihr das, wenn ihr einen Roman lest und erst nach einiger Zeit dem Stil der Erzählung mit einem gewissen Flow folgen könnt? Ich erlebe das als Genrespringer öfter. Mit fortschreitender Lesezeit gewöhnte ich mich an den Stil von Virtual Revolution 2046 und gleichzeitig nahmen auch die Fußnoten ab. Mehr noch, ich hielt diese für Genreeinsteiger sogar für eigentlich enorm hilfreich. Es scheint, als wollte Guy-Roger Duvert gewisse Konzepte nicht nur nutzen, sondern sie auch erklären. Wichtiger, mit Zunahme der Dramatik in den verschiedenen Handlungssträngen, entfachten die „Gucklöcher“, dieser „Insta-Reel-Stil“ einen fast hektischen und damit passenden Flow. Wie ein schnell geschnittener, dramatischer, atemberaubender Action-Film. Virtual Revolution 2046 rutscht in seiner Machart somit gefühlt öfter in den Bereich eines Drehbuchs ab, ohne eines zu sein. Somit war es gerade zum Ende hin ein cooler und spannender, wenn auch immer noch ungewöhnlicher Ritt. Trotzdem erreicht es selten die mächtige Bildsprache der Neuromancier-Trilogie oder Richards Morgans Unsterblichkeitsprogramm. Zugegeben, dieser Vergleich mag unfair erscheinen, sind es schließlich literarische Meisterwerke seines Genres.
Wiederholungstäter
Ich schrieb dies schon beim Comic und muss es auch hier schreiben, mit einer großen Bitte an Guy-Roger Duvert, bitte mache nicht den George R. R. Martin! Auch dieser Roman ist wie die Graphic Novel nicht abgeschlossen, sondern lässt einige Fragezeichen offen. Mitunter bin ich bei manchen Charakteren erst jetzt da angekommen, wo mich der weitere Werdegang nachhaltig interessiert. Ich hoffe, diese Welt wird kein Universum der losen Enden, sondern wir erleben gemeinsam Fortsetzungen.
Fazit
Virtual Revolution 2046 lässt mich zwiegespalten zurück. Einerseits fasziniert mich die düstere Zukunftsvision, die mit ihrer Aufteilung der Menschheit in Vernetzte, Lebendige und Hybride ein erschreckend nachvollziehbares Bild gesellschaftlicher Spaltung zeichnet – irgendwo zwischen Sozialkritik und Cyberpunk-Nerd-Fantasie. Die Ideen und Charaktere sind stark, das Worldbuilding strotzt vor Potenzial. Spätestens mit wachsender Vertrautheit mit der ungewohnten Erzählweise beginnt die Geschichte an Tempo und Reiz zu gewinnen. Plötzlich entwickelt der Insta-Reel-Stil seinen Sog! Doch der Weg dorthin war mit blendenden Neon-Lasern gepflastert. Der Stil ist ungewohnt, durch die kurzen Kapitel fast bruchstückhaft. Virtual Revolution 2046 lässt die ganz große Welt und Zusammenhänge oft im Dunkeln und lässt mir wenig Zeit zum intensiven und umfangreichen Eintauchen. Mehr ein Action-Film, ein schnelles und hartes Eindippen in Szenerien. Wer um diesen Charakter des Romans weiß und diesen liebgewinnt, der wird eine Fortsetzung fordern. Virtual Revolution 2046 ist somit kein Roman klassischem Aufbaus, aber ein schneller, stilistisch ungewöhnlicher Ritt durch eine faszinierende Dystopie, die oft mehr Fragen stellt, als sie beantwortet. Ich hoffe, die Geschichte wird weitergeführt …
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