
Kurzcheck: Darum geht es in Harrow County
Emmy gegen die Familie. Harrow County ist ein Kampf um Siegpunkte mit vielen unterschiedlichen Spielelementen für 2 Personen. Nein, falsch. Für 3 Personen. Also, am besten spielt sich Harrow County zu zweit, allerdings ist auch das Spiel zu dritt möglich. In Harrow County versucht ihr, über drei von vier möglichen Aktionen und die Spezialfähigkeit eures Charakters möglichst schnell sieben Siegpunkte zu generieren. Je nach Kapitel kommen dabei noch unterschiedliche Schwierigkeitsstufen zum Einsatz. Ja, sehr richtig gelesen: Harrow County ist in fünf verschiedene Kapitel unterteilt. Die Kapitel 1–3 bringen euch schrittweise neue Spielmechaniken bei. Kapitel 4 tauscht eine Seite gegen Emmys Schwester Kammi aus, und Kapitel 5 ermöglicht das Spiel zu dritt.

Skepsis und Misstrauen
Überall am Tisch ist Skepsis und Misstrauen. Marc und ich sind gegenüber Harrow County eher skeptisch eingestellt. Ok. Das Material sieht zu Beginn sehr schick aus. Es liegt eine Zeitung und der Verweis auf den Comic bei. Zudem eine dicke, bebilderte Anleitung und jede Menge Material. Wir sind zu Beginn leicht überfordert. Was benötige ich für den Start? Erstmal sortieren. Mag ich persönlich sehr gerne, aber im Hinterkopf schwebt noch immer die meist treffende Einordnung von Alexandre: „Mir hat Harrow County nicht gefallen.“ Eine Einschätzung, die Marc und ich nach der ersten Partie nicht teilen. Im Gegenteil. Nach der ersten Partie sind wir völlig begeistert und haben Lust auf die nächsten Kapitel. Da wir ein paar kleine Fehler im System hatten, verabreden wir uns an einem Freitag, die Kapitel 1–4 zu spielen. Das geht, denn eine Partie Harrow County dauert 30–45 Minuten.

Währendessen
Nach unserer ersten Partie sendet mir Marc einen Link, um den Comic zu Harrow County online zu lesen. Die nächsten zwei Tage tauche ich in die mystische, gruselige Welt von Emmy, ihrer Schwester, der ominösen Familie und Hester Beck ein. Ich suchte die Comics durch. Kaum ist einer gelesen, lade ich mir den nächsten auf mein Tablet. Die Comics sind unfassbar gestaltet. Die Geschichte mit Charakteren, die sich entwickeln und vielschichtig sind. Der Comic in seiner Gesamtheit packt mich. Ich liebe das Fantasy-Horror-Genre sehr, aber die abgeschlossene Geschichte von Cullen Bunn und Tyler Crook ist ein episches Meisterwerk. Die Geschichte lässt mich tief eintauchen und gibt dem Brettspiel Harrow County ein wahnsinnig immersives Setting. Gänsehautfeeling.

Kapitel 1
Marc schafft es nicht, meine Gebäude zu zerstören. Die Familie um ihren Anführer Levi möchte Harrow County dem Boden gleichmachen, um Hester Becks Fluch zu brechen, die Geschehnisse rückgängig zu machen und einen blinden Fleck auf der Landschaft wiederherzustellen. Dafür muss Marc vom Ort der Zusammenkunft der Familie aus Wirbelstürme zu den Gebäuden in Harrow County herbeirufen. Meine Aufgabe ist es, die Bewohner auf einem Weg zu meiner Farm in Sicherheit zu bringen. Weiter gibt es noch Punkte, indem ich die mächtige Eiche im Zentrum kontrolliere oder des Gegners Spuke im Kampf besiege.

Der Kampf
Da Marc an meine Gebäude nicht rankommt, sucht er sein Heil im Kampf. Marc hat sechs Stärkewürfel, ich nur zwei. Diese werden nun in den Würfeltower geworfen. STOPP. Sie werden nicht irgendwie in einen Würfeltower geworfen. Hier steht kein separater Würfelturm wie bei Marrakesh bereit. Hier ist die Schachtel der hochwertige Würfeltower. Die Schachtel ist so gestaltet, dass es eben jene mystische Eiche ist, die ein zentrales Element in der Geschichte ist. Mehr noch: Die Würfel spritzen aus der klaffenden Wunde des Baumes hervor. Der Wunde, die einst Emmy zum Vorschein gebracht hat. Ich kritisiere ja häufig die Gestaltung von Spielmaterial und thematische Verknüpfung. Aber mehr als bei Harrow County geht einfach nicht. Das ist absolute Weltklasse und Referenz. Zudem ist der Würfeltower nicht nur Gimmick, er ist ein zentrales mechanisches Element und sorgt für wahnsinnige Spannung. Im ersten Wurf purzeln vier von Marcs blauen Würfeln raus, keiner von meiner. Ich bin empfindlich getroffen, aber im frühen Stadium des Spiels noch gut kompensierbar, denn meine nicht erschienenen Würfel bleiben ja im Würfeltower. Und so wird jeder Kampf ein kleines Spiel mit Wahrscheinlichkeit, Übermacht und Schicksal. So auch in dieser Partie, in der im alles entscheidenden letzten Kampf fast alle meine geblockten Würfel unter Jubelschrei aus der offenen Baumwunde schießen.

Kapitel 2
Voller Vorfreude und Spannung machen wir uns an Kapitel 2 ran. Das Spiel wird über vier asymmetrische Charakter mit absolut passenden, an die Comics angelehnten Eigenschaften der Figuren ergänzt. Wahnsinn, wie genial hier die Geschichte des Comics im Brettspiel umgesetzt wird. Dabei bleibt Harrow County auch sehr gut ohne die Kenntnis der einzelnen Personen spielbar, aber wenn man eben die Personen oder Figuren und ihre Hintergründe kennt, wird es unfassbar episch und stylisch. Ich liebe es sehr. Die Aktionskarten geben dem Spiel zudem eine weitere taktische Tiefe, denn sie sind nicht einfach zu bekommen, denn man muss etwas dafür tun. Auf dem Spielplan in Harrow County liegen nämlich Plättchen aus, die ich einsammeln kann. Diese Plättchen entwickeln mein Tableau, aber sie sind oft auch an Orten, die vielleicht nicht zu meiner anderen Taktik passen. Was ich will ich lieber?

Kapitel 3
Harrow County nimmt richtig Fahrt auf. Marc und ich duellieren uns aufs Schärfste. Meine Taktik in dieser Runde: Ich möchte ihn mit Spuken überschwemmen. Diese Spuke ermöglichen es mir, Plättchen einzusammeln und einen sicheren Weg für meine Anwohner zu schaffen. In Kapitel 3 wird das Einsammeln von Siegpunkten durch das Töten dieser Spuke zäher. Zudem machen wertvolle Bonusplättchen die Aktionsauswahl attraktiver und gleichzeitig schwieriger. Ein Beispiel: Marc ist am Zug und aktiviert das Legenden-Aktionsplättchen und benutzt das passende Bonusplättchen. Verdammt. Das Bonusplättchen ist für diese Runde bei der Legendenaktion raus. Jetzt muss ich mich entscheiden. Wähle ich eine andere Aktion mit aktivem Bonusplättchen oder nutze ich das Legendenplättchen ohne die Bonusaktion? Eine schwierige Wahl, die der sehr guten Aktionsauswahl zusätzliche Würze verleiht. Denn alle vier Aktionen sind wertvoll und mächtig. Ich darf aber jede Runde nur drei Aktionen wählen.

Unterschiedliche Wege
Nachdem wir alle Kapitel zu zweit gespielt haben, sind wir überwältigt und begeistert. Harrow County spielt sich hart, taktisch und schnell. Hat man die ersten Runden hinter sich, kommt man auch immer besser mit der Anleitung parat. Diese ist jetzt kein Meisterwerk, aber zu zweit auch durchdringbar. Was bei dem Spiel definitiv überzeugt, ist das Zusammenspiel der einzelnen Mechaniken. Ich kann über das Retten der Einwohner oder entsprechend durch das Zerstören der Gebäude Siegpunkte erzeugen. Oder indem ich die Spuke des Gegners bekämpfe. Oder indem ich den Baum kontrolliere. Wie gehe ich vor? Nutze ich meine Karten? Oder breite ich mich brutal aus? Entwickle ich mein Tableau am Anfang und fokussiere ich diesen Schritt oder mache ich das eher On-the-Fly? Jeder kann entsprechend seiner Seite vier Personen oder Charakter wählen, die alle unterschiedliche Stärken und Schwächen haben. Das im Zusammenspiel mit des Gegners Wahl macht schweißnasse Hände. Kaum ist Kammi auf dem Feld, kommt wieder eine andere Komponente hinzu.

Das Spiel zu Dritt
…ist anders. Hester Beck möchte zurück. Dafür muss sie erstmal wieder beschworen werden. Ist sie auf dem Feld, möchte sie natürlich Besitz der Legenden ergreifen. Sowohl die Charaktere der Familie als auch Emmy haben eine Geschichte mit Hester Beck. Es ist logisch, dass in einem Zwei-Personen-Area-Control-Spiel eine dritte Person das Spiel entscheidend verändert. Allerdings ist es hier recht ordentlich gelungen, denn Hester infiziert die Spuke beider Legenden und nutzt diese für ihren Weg. Dadurch ist der befürchtete Königsmacher-Effekt ausgeschaltet. Jede Fraktion kämpft auf ihr Ziel hin. Aber bekanntlich ist ja… Wenn zwei sich streiten, freut sich trotzdem der Dritte. Zu dritt geht allerdings das schnelle Gameplay verloren, und das ist meines Erachtens eine Stärke von Harrow County. Entsprechend sind die Empfehlungen bei BGG. Für 78 % ist das Spiel für 2 Spielende am besten, hingegen erhält es „nur“ eine Empfehlung für 3 Spielende von rund der Hälfte der Spieler.

Fazit
Harrow County ist ein unfassbar gutes 2-Personen-Spiel, das auch für drei Spielende funktioniert. Die Geschichte um Hester Beck in Harrow County ist wahnsinnig gut und fesselnd umgesetzt. Die asymmetrischen Charaktere bieten eine unglaubliche Spieltiefe und im Zusammenspiel mit den einzelnen, vielfältigen Mechaniken eine hohe Auswahl an Spielmöglichkeiten, ohne zu kompliziert zu sein. Dabei kann man das Spiel durch unterschiedliche Kapitel nach und nach lernen. Allerdings entfaltet Harrow County sein volles Potenzial nach dem dritten Kapitel und der Berücksichtigung aller Mechaniken. Nein, falsch. Am meisten zündet Harrow County, wenn ihr die Symbiose aus Comic und Spiel herstellt. Wenn ihr ein kleines Faible für Comics, gute Geschichten, Horror oder Fantasy habt, zudem einen einzigartigen und tollen Zeichenstil wertschätzen könnt, kommt ihr an dem Comic Harrow County nicht vorbei. Die Wucht, die Liebe zum Detail und die Qualität, die das Brettspiel dann bei einer kurzen Spielzeit von 30–45 Minuten aufs Brett zaubert, sucht seinesgleichen. Ich ohrfeige mich selber, dass ich die Rezension so lange aufgeschoben habe. Wenn ich gewusst hätte, was da für eine Perle auf mich wartet.

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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Das Spiel hatte ich ja mal gar nicht auf dem Schirm, obwohl mir Harrow County außerordentlich gefällt!
Da bekommen die dicken Omnibus-Ausgaben wohl demnächst Gesellschaft im Regal. 😀
Vielen Dank fürs Augenmerk!
und die Comics sind so gut….