Kurzcheck: Darum geht es in Flotilla
1954 sind Atomwaffentest im Bikini Atoll gehörig schiefgelaufen und haben die bekannte Welt vernichtet. Der letzte Rest der Menschheit haust nun seit 10 Jahren auf der gewaltigen Flotilla mitten im Meer. Eine schwimmende Stadt aus den Überresten der Vergangenheit. Als Kapitän versuchst du durch deine Crew und deren Schiffsflotte der Flotilla Wohlstand zu bringen. Du erkundest das Meer, birgst aus den Tiefen des Ozeans alte Technologie und Ressourcen, rettest Überlebende, verstärkst deine Crew, damit du all diese Dinge noch effektiver erledigen kannst! Natürlich im Wettstreit mit anderen Kapitänen.
Kommen wir direkt zum Highlight! Wenn die Zeit reif ist, kannst du dich mit deiner Flotte, der Crew und deinen Reichtümern in der Flotilla niederlassen. Vorbei ist die Zeit auf dem Meer, willkommen in der Politik und der Forschung! Plötzlich baust du die Stadt aus, verbessert die technischen Möglichkeiten der Flotten auf See, forscht für mehr Wohlstand in der Stadt. Zwei unterschiedliche Spiele in einem Spiel, ermöglicht durch doppelseitig bedrucktes Spielmaterial. Wer die Seite wechselt, also von der Sinkside zur Skyside, dreht sein gesamtes Spielmaterial aus Plättchen, Tableaus und Karten einfach um. Das ist so cool, da kriege ich selbst jetzt beim Schreiben eine Gänsehaut der Begeisterung!
Der wilde Mix
Bevor wir mit Begeisterung weiter in See stechen, einmal einen Blick auf die Grundmechaniken. Die sind zahlreich und so dauert eine Erklärung bei der Erstpartie durchaus seine 45 Minuten. Ich kürze hier ab, keine Sorge! Irgendwie haben die Autoren J.B. Howell und Michael Mihealsick all das in die Schachtel gepackt, was sie wohl lieben. Zuerst wäre da einmal Deckbuildung. Es gibt nämlich vier verschiedene Gilden, die für die unterschiedlichen Bereiche des Spiels zuständig sind (Einfluss, Handel, Erkundung, Bauen) und bei denen man neue und mächtige Crew-Mitglieder anheuern kann. Weiter hat man eine Lege- und Puzzlemechanik mit gezogenen Meeres-Plättchen. Man baut also einen Ozean vor sich aus und dabei versucht man gleichfarbige Artefakt-Ecken zu vervollständigen.
Dann gibt es einen dynamischen Markt, bei dem sich die Preise je nach Kaufverhalten der Spieler ändern. Etwas versteckt, aber der Kampf um Mehrheiten, also Einfluss in den Gilden, ist auch nicht zu vergessen. Was haben wir noch nicht? Würfel! Bei der Forschung, wie auch der Bergung auf dem Meer, wird daher gewürfelt. Crew-Karten, wie auch die Meeres-Plättchen, ermöglichen dafür Würfelpoolmodifikationen. Übergeordnet haben wir dann noch ein Wettrennen um die Erfüllung von Zielen, die Siegpunkte ausschütten und mit der Zeit schwächer werden. Ganz schön viel, aber auch beeindruckend gut verzahnt. Es wurde nicht alles blind in den Mechanik-Topf geworfen, sondern thematisch sinnvoll vertäut.
Immer wieder geil!
Man verzeihe mir diese rüde Ausdrucksform, aber ich liebe Flotilla einfach für seinen Wechsel von Sinkside zur Skyside und die gleichzeitig großartige thematische Einbettung. Es ist das mechanische Prunkstück, das später beschriebene scharfkantige Ecken vergessen lässt. Erstens ist da die strategische Komponente, denn der Wechsel ist nur einmal möglich und nicht umkehrbar. Gleichzeitig kann man auch durchaus das Spiel ohne diesen Wechsel gewinnen. Du musst also erahnen, wann der Wechsel Sinn macht. Ein schlechter Wechsel kann ein gutes Spiel ruinieren, es kann aber auch eine verloren geglaubte Partie auf die Siegerstraße führen. Das Timing ist entscheidend, auch in Bezug auf den möglichen Wechsel anderer Spieler und dem eigenen Material aus Deck, Ressourcen und Ozean-Plättchen.
Kommen wir zur thematischen Einbindung, die das Spiel für beide Seiten verändert. Da wäre zum Beispiel das Radar. Ohne die Forschung eines Skysides-Spielers bleibt das Radar unausgereift. Das führt dazu, das die Seefahrer mit extremer Wahrscheinlichkeit radioaktiven Müll finden. Das sollte man vermeiden, weil das Sammeln davon am Ende Minuspunkte beschert. Verbessert ein Skyside-Spieler das Radar, wird er selbst mit ordentlich Siegpunkten belohnt, verringert aber gleichzeitig die Gefahr für die Sinkside-Spieler bei der Suche nach Ressourcen. Weiteres Beispiel wäre der Markt. Als Sinkside-Spieler braucht man keine Ressourcen für den Bau von irgendwas, man verkauft vor allem gefundene Ressourcen. Wenn aber alle Spieler nur verkaufen, sinkt der Preis ins Bodenlose. Es wird immer schwerer Geld einzunehmen und damit Ziele und somit Siegpunkte einzulösen. Die Rettung ist ein Sinkside-Spieler, der Ressourcen nur über den Markt erhält und diese für den Ausbau der Stadt braucht. Kauft er viel billig ein, steigen die Preise wieder. Es gibt noch mehr dieser wunderbaren Abhängigkeiten, wo beide Seiten sich stark beeinflussen können.
Interaktion und Entscheidungen
Manch einer wirft dem Spiel fehlende Interaktion vor. Dem würde ich widersprechen, entsteht diese doch durch die verschiedenen Timing-Konflikte. Wer viele Siegpunkte machen möchte, muss auf die ausliegenden Ziele spielen. Deine Aktionen müssen darauf ausgerichtet sein, ansonsten sind andere Spieler schneller. Wer später Ziele erfüllt, erhält weniger Punkte! Auch kabbelt man sich um den Erwerb neuer Crew-Mitglieder, die unterschiedlich stark sind und den Einfluss bei den Gilden. Wo wir bei der Crew sind, hier gibt es den Studenten, der eine andere ausgespielte Karte der Mitspieler kopiert. Jeder hat den Studenten von Anfang an in der Crew. Eine enorm mächtige Karte, erhalte ich so Zugriff auf starke einzigartige Karten der Gegner! Wann also spiele ich den Studenten und wie lange zögere ich meine starken Karten hinaus, damit andere sie nicht kopieren?
Ausgespielte Karten kommen übrigens auf einen Ablagestapel. Erst wenn du den Kapitän spielst, was eine Art Aussetzen ist, darfst du deine Crew wieder auf die Hand nehmen. Für jede Karte erhältst du nun Einnahmen in Form von Geld, welches schnell Mangelware sein kann. Dabei brauchst du es dringend für neue Schiffe und für das Auslösen der Ziele. Wann also holst du deine Karten zurück? Alle ausspielen für viel Geld oder sich nur auf die guten Karten konzentrieren?
Die Schattenseiten
So sehr ich Flotilla auch liebe, man kann vor den Schwächen schlecht die Augen verschließen. Fangen wir mit der Spielzeit an. Flotilla ist beendet, wenn alle Siegpunkte verteilt sind. Man startet mit 100 Siegpunkten pro Spieler im Pool. Spielt man weniger fokussiert, was als Erstspieler gerne passieren kann, dann wird Flotilla zum schlechtes Kaugummi. Zu wenig Geschmack für die Kauzeit und zu zäh! So oder so ist Flotilla am Ende immer eine lange Sache.
Tja und dann machen sich bei so einem verzahnten Schwergewicht die Glückselemente vielleicht nicht ganz so gut. Mich stört es weniger, aber es kann einen schon hart treffen! Wer nach Ressourcen auf Tauchgang geht und schlecht würfelt, der findet kaum etwas und mit Pech ist das Plättchen auch noch verbraucht. Dein Mitspieler hat vielleicht Glück und kann an seinem Ort mehrmals tauchen und badet in Ressourcen. Auch bei den gezogenen Plättchen für das Meer (und später für die Stadt) kann man äußerst ungünstig ziehen. Keine passenden Artefaktecken, die immer gleichen Ressourcen oder Verstrahlung ohne Ende, ja, manchmal fühlt man sich völlig zufällig hart bestraft.
Fazit
Durch diese spielerischen Täler gehe ich in Flotilla aber gerne! Die gut verzahnten und thematisch wirklich grandios vertäuten Mechaniken sind in ihrer Fülle eine echte Wonne. Hier etwas Deckbuildung, dort pokern mit speziellen Crew-Karten, dazu ein paar Plättchen platzieren, Ressourcen verhökern und zwischendurch die Glückselemente umarmen, ich schippere hier in purem Spielspaß. Dazu trägt natürlich auch das wirklich tolle Material bei! Es sind Details, aber als Junge von der Waterkant feiere ich schon das Platzieren von Ressourcen auf den Frachtschiffen. Über allem schwebt dann der wirklich geniale Wechsel von der Sink- zur Skyside! Hier werden zwei völlig unterschiedliche Spielgefühle in einem Spiel elegant und thematisch dicht verwoben. Flotilla hat sich, trotz seiner vorhandenen Schwächen und der Bedingung mindesten zu dritt unterwegs sein zu müssen, komplett in mein Herz gespielt! Wunderbar, dass es nun dieses Spiel auch auf Deutsch gibt.
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3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Ich wollte es damals auch mitnehmen – jetzt hätte man sogar die Chance auf eine deutsche Version – lass uns das mal bitte demnächst spielen! 🙂
Hallo und danke für die emotionale und trotzdem qualifizierte Rezension. Wir haben Flotilla zu Dritt, alle Erstspieler, gespielt und ich empfand genau so. Tolle Verzahnung, thematisch sehr ansprechend und super illustriert. Ich habe den Wechsel nach etwa 10 Plättchen und einigen Tauchgängen durchgeführt. Und am Ende mit etwa 100 Punkten Abstand zum 2. gewonnen. 🤗
Funktioniert Flotilla auch zu zweit. Vielleicht mit ein paar Anpassungen? Wir haben leider häufig keinen 3. Mitspieler zur Verfügung.
Das habe ich selbe noch nie versucht. Ich vermute, dass könnte schwierig werden, auch aufgrund des Wechsels.