Lesezeit: 6 Minuten
ISS VanguardISS Vanguard, es ist Zeit, dass wir uns unterhalten. Ich liebe dich. Eigentlich. Ich spiele dich aber nicht mehr. Warum? Einer der Sätze in unserem Haushalt, der stetig fällt, noch vor Klassikern wie „Kinder macht das Licht aus!“ ist die Bemerkung: „Wir müssen mal wieder ISS Vanguard weiterspielen.“ Eigentlich. Und das wollen meine Frau und ich auch, ehrlich! Wir sind in die umfangreiche Kampagne gestürmt, wie ich im Sommer in meinen liebsten Eisladen. Die Optik ist High-End, das Thema streichelt jede Pore meiner Star-Trek-Nerd-Haut auf liebevollste Weise. Wir tauchten tief, beschallt von feinsten Sci-Fi-Melodien und ISS Vanguard war drauf und dran, das bessere Tainted Grail zu werden. Eigentlich.

Kurzcheck: Darum geht es in ISS Vanguard

In ISS Vanguard übernimmst du in bester Star-Trek-Manier das Kommando über ein riesiges Raumschiff. Kein kleiner Kahn. Kein schnittiger Kreuzer oder was man eher sonst so in Brettspielen „steuert“. Eher Weltenschiff. Mit unzähligen Besatzungsmitglieder:innen, vielen Räumlichkeiten und fetter Technik. Nachdem Forschende in der menschlichen DNS die sogenannten „göttlichen Koordinaten“ entdeckt hatten, ist das erste Schiff dieser Art nun auf der Reise, um herauszufinden, was sich an diesen Koordinaten verbergen mag. So starteten wir hoffnungsvoll. Pfadfinder im All! Unzählige Gefahren, Anomalien und wilde Planeten warten, aber auch Streitereien und Heimweh an Board. ISS Vanguard ist kein Star Wars. In erster Linie selten ein Kampfspiel. Es ist eine Reise. Es ist Erkundung. Es ist Staunen über wundervolle Panoramen, mysteriöse Vorkommnisse und unerwartete Twists. Und ihr trefft Entscheidungen, die unterschiedliche Auswirkungen auf eure Kampagne haben. Es ist erbaut aus Atmosphäre, Immersion und ein wenig Mechanik.

Mechanisch ist ISS Vanguard einfach gehalten. Im Spiel kontrolliert jede Person eine oder mehre Sektionen (Technik, Aufklärung, Wissenschaft und Sicherheit) und entsprechend auch die unzähligen (!) Besatzungsmitglieder der jeweiligen Sektion. Dazu gehört dann auch das Managen der Würfelpools und Aktionskarten der Sektionen, die man bei der Planetenerkundung braucht. Wo wir bei Karten sind, ISS Vanguard hat mehr als 1170. Crazy! Das Spiel teilt sich zudem in zwei separate Bereiche, die aber natürlich verschränkt sind: Planetenerkundung und Schiffsmanagement. Ersteres ist die Triebfeder, um in der Kampagne vorwärts zu kommen und steht für den spielmechanischeren Part, während das Schiffsmanagement eine extrem aufgepimpte Verwaltungsphase ist. Hier baut man sein Raumschiff aus, entwickelt neue Karten, erkauft sich Würfel, forscht an neuen Technologien oder kümmert sich um die Besatzung. Klingt gut? Ja, verdammt! ISS Vanguard ist ein Traum. Eigentlich.

ISS Vanguard
Wir starten in die Planetenerkundung

Beam me up, Scotty!

Jetzt gieße ich Honig aus. ISS Vanguard hat mich bisher über 20 Stunden verzaubert. Ich saß hier mit meiner Frau am Tisch und unsere Augen strahlten. Die Optik ist großartig. Die Neugierde auf den nächsten Planeten groß. Die Story hat uns mitgenommen. Für mich die perfekte Mischung aus 2001: Odyssee im Weltraum und meinem geliebten Star Trek. Wir wandelten über bizarre Planeten, erforschten Gebiete, in denen kein Mensch vorher je war. Wir scannten Mineralien, bauten Ressourcen ab, fanden Geheimnisse und rauften uns bei so manchen Entscheidungen die Haare. Ja, oft verbraucht man nur ein paar Würfel bei Proben oder schiebt diese hin und her, aber durch begrenzte Vorräte, gefährliche Anomalien, fiesen Missionen und manch feindliche Überraschung entsteht trotzdem Druck, weil der Würfelpool und damit die Aktionsmöglichkeiten nach jeder Aktion schmelzen. Keine Würfel mehr? Dann kannst du deinen Charakter begraben. Genau darum macht es aber auch Laune, seine Crew mit Würfeln, Ausrüstungskarten und angepassten Deck immer wieder zu optimieren.

ISS Vanguard
Joppe aus der Sektion Erkundung sollte mir noch ans Herz wachsen.

Entscheidungen

ISS Vanguard ist trotz seiner Einfachheit spannend und kein No-Brainer. Es ist dabei auch viel weniger Roman als Tainted Grail. Zeigt visuell mehr, hat ein paar coole spielerische Kniffe wie das Scannen von Planeten vor der Landung oder die Entscheidungen bei der Energieausgabe im Raumschiff. Schiffsmanagement klingt so lapidar, aber wenn du nur wenige Aktionen hast, dann geht das Palaver am Tisch los. Forschen wir, weil dies womöglich neue Technologien einbringt, die die Planetenerkundung vereinfacht? Kümmern wir uns um die Crew, denn wer Heimweh, Streit und diverse andere menschliche Befindlichkeiten vernachlässigt, kann empfindlich in der Zukunft getroffen werden. Bilden wir neue Crewmitglieder:innen aus? Nur mit umfangreicher und ausgebildeter Crew läuft der Kahn rund.

Nur einige der vielen Möglichkeiten. Ich lasse viele Details weg, weil das Spiel damit vollgestopft ist. ISS Vanguard ist eine Space Opera und Space Sim. Es erzählt eine große Geschichte und unzählige kleine, vor allem wenn das eigene Kopfkino seine Pforten öffnet. Herrlich. Wir wurden abgeholt. Da fällt mir ein, „wir müssen mal wieder ISS Vanguard weiterspielen.“

ISS Vanguard
Neuer Planet, andere Sektionen … schauen wir mal!

Des Pudels Warpkern

Eingangs fragte ich, warum wir es nicht mehr schaffen, ISS Vanguard zu spielen. Die Antwort ist eine Mischung aus opulenter Sperrigkeit, deutschen Ämtern und der lieben Zeit. Die Story ist einfach. Ich komme nach Hause, den Warpkern der Vorfreude schon in der Hand. Meine Frau trägt ihre gebügelte imaginäre ISS Vanguard Uniform. Wir sind startklar. Wir haben Bock. Auspacken. Dickste Schachtel und 1170 Karten in verschiedenen Boxen, zwei Spielbücher, Umschläge, Würfel, Standees, Figuren. „Schatzi“, sage ich zu meiner Frau, „mich nervt das Gedränge auf dem Tisch, ich ziehe den aus!“ Die Maße sind nun 210 x 100 cm. Immer noch leicht beengt. Wir stürzen uns ins Spiel. Es startet das Schiffsmanagement. Wir lieben diese Phase. Eigentlich. Wir wollen heute aber zügiger spielen, weil wir endlich den neuen Planeten erkunden wollen. Wir quatschen hier, wir ziehen dort eine Karte und natürlich werde viele Karten im Raumschiff-Ordner in Taschen gesteckt oder rausgezogen. Es ist eben eine Space Sim! Gut, irgendwann sind wir mit dem Schiffsmanagement fertig. Ich gucke auf die Uhr. WTF. Ganze 60 Minuten sind rum. Kein Einzelfall. Ich fühle mich hier wie ein Beamter in einer nicht-digitalisierten Stelle für Aktensortierung.

Dann folgt der Aufbau für die Planetenphase. Fast das gleiche Spiel! Nix da mit Planetenbuch aufklappen und losspielen. Unzählige Karten, Decks und Würfel müssen von ganz speziellen Orten zusammengestellt werden. Die Kartentrenner in den Kartenboxen sind hilfreich, aber es nervt irgendwann trotzdem. Vor allem muss man nach der Planetenphase die ganzen Karten auch wieder an genau die richtige Stelle zurücksortieren. Es gab eine Zeit, da habe ich es geliebt Brettspiele aufzubauen. Steckst du noch in dieser Phase? Dann ist ISS Vanguard dein Traum. Jede Partie ISS Vanguard hat mir Spaß gemacht, weil ich die Atmosphäre unheimlich genießen konnte, aber das Handling ist ein kraftraubender Albtraum.

Fazit

ISS Vanguard, was mache ich nun mit dir? Ich will es empfehlen. Eigentlich. Es bietet ein einzigartiges Spielgefühl. Immersion und Atmosphäre passt bei dieser opulenten Mischung aus Space Sim und Space Opera wie Kirk zu Spock. Der Tisch ächzt durch das viele Material, das eben dieses tiefe Eintauchen ermöglicht. Du stehst hier auf einer analogen Brücke eines Weltenschiffs, welches unzählige Herausforderungen bereithält. Ausbildung der Crew, werkeln am Schiff, Forschung an Ausrüstung, psychologisches Coaching aufgrund menschlicher Probleme und unzählige kleine und große Geschichten mit einigen Twists packen dieses Abenteuer in eine Richtung, die mir als Star-Trek-Fan sehr gefällt. Pfadfinder sein statt Lasergeballer. Unzählige Karten in Symbiose mit dem Schiffsordner decken clever die verschiedenen Bereiche des Spiels ab und ein großes Planetensystem lädt zur Erkundung ein.

Mechanisch bleibt es einfach, aber üppig in seiner Breite. Die Außenmissionen belohnen ebenfalls mit einer tollen Mischung aus Würfelmanagement, Würfelwürfen, Deckbau und Missionen, Survival und einer wahnsinnigen Atmosphäre. Letzteres gewichtet ISS Vanguard wesentlich schwerer als eine ausgeklügelte mechanische Entfaltung. Dabei ist es insgesamt weniger textlastig als Tainted Grail, weiß aber trotzdem mit guter Erzählweise das Kopfkino anzuschmeißen. Knackpunkt ist der Verwaltungsaufwand. Der ist sogar Teil des Spielspaßes, nervt aber vor allem dann, wenn man ISS Vanguard nicht aufgebaut lassen kann oder am Abend nicht ständig mindestens drei Stunden Zeit hat. Kurzum: Ich will ISS Vanguard spielen, wenn ich aber den Karton und an den ständigen Auf- und Abbau denke, der innerhalb des Spiels durch die zwei Phasen ja auch noch zusätzlich durchgeführt werden muss und nicht nur am Anfang und Ende einer Partie, dann bekommt mein innerer McCoy Panikattacken aufgrund des Aufwands. Trotzdem … „wir müssen mal wieder ISS Eigentlich weiterspielen!“

ISS Vanguard

169 €
8.8

AUSSTATTUNG

9.5/10

SPIELIDEE

9.0/10

SPIELSPASS

7.8/10

Kurzfakten

  • Grandiose Atmosphäre
  • Tolle Storys
  • Viele Entscheidungen
  • Mechanisch einfach, aber gelungen
  • Brutaler Verwaltungsaufwand

Spielinformationen

  • Genre: narratives Kampagnenspiel
  • Personen: 1 - 4
  • Alter: ab 14
  • Dauer: +120 Minuten
  • Autor: Andrzej Betkiewicz, Krzysztof Piskorski, Paweł Samborski, Marcin Świerkot
Redakteur | Admin | Gründer von Brett & Pad | Website | + Letzte Artikel

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8 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Schöner kurzer Bericht, warum das Spiel nicht mehr so häufig bei euch auf dem Tisch landet. Die sehr gute Wertung von 8,8 geht ja vor allem auf die Ausstattung und die Spielidee zurück, hier würde ich mir eine stärkere Gewichtung des Spielspaßes bzw. der Umsetzung wünschen. Das gleiche ist ja bei Videospielen Optikblender wie ein „Ryse: Son of Rome“ bspw. sind ja auch keine guten Spiele nur weil die Idee und die Optik stimmen 😀 ISS Vanguard fand ich spannend aber die Kritik hat mir nochmal bestätigt sofern ich keine längere Zeit arbeitslos sein, werde wird es nicht ins Regal einziehen, zu groß ist der zeitliche Aufwand und die Konkurrenz im Spielregal.

    Antworten
    • Hallo Jannis,

      Danke. Eine neue Wertungsbox wäre toll, aber das ist zurzeit nicht so einfach umsetzbar. Es nervt mich selber schon lange. Allerdings empfinde ich ISS Vanguard eben auch als gutes Spiel. Ich will meine 20+ Stunden nicht missen. Und ich glaube, wir werden das auch noch durchspielen. Es ist schon ein einzigartiges Spiel, das ich mag. Eigentlich 😉 Es ist nur dermaßen sperrig. Ich wollte die Rezension eigentlich erst schreiben, wenn ich mit dem Spiel durch bin, weil ich es so liebe. Dann habe ich mich aber gefragt, warum dauert das so lange? Musst du das nicht auch irgendwie thematisieren? Ist es nicht DER Kritikpunkt? Daher kam jetzt die Rezension.

      Liebe Grüße

      Christian

      Antworten
  • Also gibts offenbar nur zwei Lösungen:
    a) eine Zweitwohnung, um sowas aufgebaut stehen lassen zu können (alternativ die bereits mal angesprochene gutsherrliche Spielkommune auf dem Land mit jeder Menge Platz)
    oder
    b) Verwaltungspersonal

    Am besten natürlich beides 😉

    Antworten
    • Eigentlich müsste nur ein Kind ausziehen und dann braucht es einen Brettspieltisch mit Keller im umfunktionierten Kinder aka Brettspielzimmer. 😀 Allerdings bevorzuge ich eigentlich das Zimmer mit Kind. 😀

      Ganz ehrlich, hätte ich so einen Brettspieltisch mit Keller, ISS Vanguard hätte ich schon durchgespielt.

      Antworten
      • Gordon Shumway
        16. Juli 2024 11:47

        Von dem guten alten Brettspieltisch, auf dem man Spiele aufgebaut stehen lassen kann, träume ich auch. Gerade für die großen Klopper. Wenn das erste Kind in 10 Jahren auszieht, wird das realisiert. Unbedingt. 🙂

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        • Auch so ein Tisch ist kein Garant dafür. Mein Kumpel ist Schreiner und hat uns einen „tiefergelegten“ Tisch gebaut mit Platte zum drüber legen, da ich diesen Tisch auch als Home Office-Platz nutze. So könnte ich theoretisch all die Spiele liegen lassen und Stück für Stück durchspielen. Nur…mach ich das auch nicht. Dann wird der Tisch doch auch für die Gruppenspiele benutzt und daher dennoch ein häufiger Auf- und Abbau notwendig.

          Dabei warten in meinem Regal UNZÄHLIGE Kampagnenspiele. Oathsworn, Aeons Tresspass, OrcQuest, Tainted Grail, Etherfields, ISS Vanguard, Frosthaven, Isofarian Guard, The Hunter 2114 A.D, Arkeis, Sleeping Gods, Primal, Unsettled, Reise durch Mittelerde, Tanares Adventures…und fast so viele stehen noch in der Pipeline…

          Ja, ich weiß ich habe ein Problem 😉

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          • Dann bleibt wohl doch nur Lösungsansatz B: Personal! 😉

          • OMG. WTF. Was tust du? So viele Kampagnen … mein Albtraum. Bei mir es wirklich die Lösung. Ich habe aufgehört Kampagnenspiele zu „sammeln“ und habe nur wenige. Ja, ein Drunagor muss ich auch aufbauen, aber da lohnt sich ein dauerhaft aufgebautes Brettspiel gar nicht. Das ist ja von System zu System auch unterschiedlich. Bein ISS Vanguard würde sich es für mich aber ziemlich lohnen. Mich nervt es viel weniger Token oder Minis aus und in Trays zu packen als ständig diese Karten zu sortieren.

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